Hören mit dem dritten Ohr

Assoziative Reflexionen zur inneren und äußeren Welt

Aktuell bin ich täglich mit der Frage beschäftigt, ob ich mich in dieser pandemischen Zeit eigentlich fürchte. Als mir vor knapp 10 Tagen klar zu werden begann, was die fortschreitende Ausbreitung des Coronavirus für unser Medizinsystem, aber auch unser Wirtschaftssystem, unser Sozialsystem und ganz allgemein für unser Miteinander bedeuten könnte, erfasste mich ein innerer Zustand, den ich im Rückblick wohl panisch nennen muss. Ich malte mir innerlich Schreckensszenarien von Menschen am Rande ihrer Existenz aus, sowohl körperlich als auch psychisch. Die maßlosen Klopapierkäufe von Menschen in ihrer Not(durft), leere Nudelregale und diejenigen, die eine Verschwörung der Virologen vermuteten, linderten meine Ängste nicht. Ich ertappte mich vielmehr im Supermarkt bei Fragen wie „Sollte ich nicht doch wenigstens eine Packung Taschentücher mitnehmen?“ oder „Wenn schon kein Mehl, dann vielleicht eine der beiden verbleibenden Tüten mit Hartweizengrieß?“ Als ich mich mit einer Packung Klopapier für 5,49€ aus dem Bioladen schlich – ehrlich gesagt wäre es noch nicht ganz notwendig gewesen – schämte ich mich doch ziemlich dafür, dass auch ich offensichtlich Angst hatte. Angesteckt war. Lange bevor das ansteckende Virus in greifbarere Nähe gerückt war.

Ich denke also über Ansteckungsängste nach.

Eigentlich tue ich das täglich. Es ist sozusagen mein Beruf. Als Psychoanalytikerin versuche ich, Menschen darin zu begleiten, ihre unbewussten seelischen Konflikte und Verstrickungen zu finden und so zu verstehen, dass es langfristig gelingen kann, zufriedenstellendere Erfahrungen mit sich, mit anderen und der Welt im Allgemeinen zu machen. Ich stelle mir meine Arbeit dabei manchmal wie gemeinsames Rätsellösen vor. Oder eine gemeinsame Reise durch ziemlich unwegsames Gelände. Zudem mit einem Reisebegleiter, den man erst währenddessen nach und nach kennenlernt. Ich weiß zu Beginn nicht, was der andere in seinem bisherigen Leben erlebt hat. Was ihn geprägt hat. Welche Ängste er in sich trägt. Ob er im Zweifel bereit ist, mir zu vertrauen oder die Flucht ergreift, wenn es schwierig wird. Was passiert, wenn er mal nicht einverstanden ist mit meinen Ideen.

Eines ist für mich allerdings sicher. Eine Psychotherapie ist ein Unterfangen gegenseitiger Abhängigkeit. Die Abhängigkeit des Patienten scheint eindeutig. Er kommt mit Leidensdruck, erhofft Besserung seiner Symptome und Hilfe von mir als Fachfrau mit meinem Expertentum. Er ist an die Grenzen der eigenen Bewältigungsmechanismen geraten. Er ist davon abhängig, dass ich einen Weg weiß. Die Abhängigkeit der Therapeutin ist komplizierter. Sieht man einmal davon ab, dass die Kostenübernahme der Behandlungen meine Existenz sichern (eine Abhängigkeit, die sich glücklicherweise auf viele Patienten verteilt), wird es als hohes Gut betrachtet, gerade NICHT von seinen Patienten abhängig zu sein. Sie nicht zu BRAUCHEN für die Erfüllung eigener Bedürfnisse, Bestätigung des eigenen Selbstwertes, Rückversicherung für die eigene Kompetenz, das persönliche Erfolgserleben. Und ich nehme diese Verantwortung, mich da immer wieder kritisch zu hinterfragen, mich mit Kollegen möglichst auf vielen Ebenen auszutauschen, sehr ernst. Und dennoch bleibt diese intime Situation, in welcher zwei Menschen die Seele erkunden, eine Situation der gegenseitigen Abhängigkeit. Eine Situation, in der Veränderung wesentlich davon abhängt, dass Ansteckungsängste nicht zu groß werden, da Ansteckungsprozesse quasi die Basis des Erfolgs bilden.

Es ist nicht möglich, dass eine Therapeutin alles in sich trägt und aus eigener Erfahrung alles kennt, was Patienten erlebt haben in ihrem Leben. Es ist auch gar nicht notwendig. Einfühlung geht über Ansteckung. Es reicht also aus, wenn sie (oder natürlich er) fähig ist, sich anstecken zu lassen. Anstecken von der Angst eines Kindes, wenn Gewalt drohte. Anstecken von der Wut desselben Kindes über die Grenzüberschreitung, die es erleben musste, die Beschämung darüber, benutzt zu werden für die Aggression eines anderen. Anstecken vom Stolz einer essgestörten Patientin, wenn sie es aus eigener Kraft zum ersten Mal schafft, ihre zwanghaften Muster zu durchbrechen, sich ihre Abhängigkeit vom Essen und den Menschen um sie herum eingesteht. Anstecken von der Enttäuschung über einen Vater, der nicht da war, der sich nicht hat lieben lassen, so dass bisher die Suche nach einem Partner immer wieder die Suche nach dem Mangel blieb. Anstecken von der Scham über den eigenen Körper, sich zu zeigen, mit seinen Schwächen, aber auch seinen Stärken. Ansteckung bedeutet in diesem Zusammenhang, etwas Fremdes in sich hineinlassen zu können und im Verlauf zu entdecken, dass es durchaus an etwas Eigenes anzuknüpfen in der Lage ist. Vielleicht nicht, weil man selbst verprügelt wurde, aber weil auch die kritischen Worte der ehemaligen Lehrerin geschmerzt und geängstigt haben. Weil man die Frage nach der Liebe im eigenen Leben auch noch nicht gelöst hat. Oder einfach, weil man immer wieder an sich selbst zweifelt.

Natürlich geht es nicht darum, in Ansteckungsprozessen steckenzubleiben. Dauerhaft krank zu werden. Die gleichen Symptome zu entwickeln wie der Patient oder die Patientin. Es ist vielmehr essentiell wichtig, das eigene seelische Immunsystem immer wieder aktivieren zu können (das im besten Fall durch eigene langjährige Therapie gefestigt ist), um den „Erregern“ begegnen zu können. Aber um sie untersuchen und verstehen zu können, müssen sie erst einmal andocken. Es geht auch für die Therapeutin immer wieder darum, die jeweilige Infektion zu durchstehen. Unangenehmes und Schmerzhaftes zu erleben oder zumindest zu erinnern.

Schwierig wird es, wenn Therapeuten ihre eigenen schmerzhaften, beschämenden, beängstigenden Erfahrungen nicht erinnern „wollen“ oder können und somit keine „Angriffsfläche“ bieten. In einer souveränen Position verharren, in welcher sie die Experten für fremde Gefühlszustände sind und diese interpretierend analysieren. Dabei aber auf eine eigenartige Weise fern und unberührbar bleiben. Sich nicht anstecken lassen. Vermutlich, weil die Angst zu groß ist.

Was lässt sich gegen Angst schon ins Feld führen? Vielleicht nur, dass wir alle davon betroffen sind. Mal mehr, mal weniger. Zur Zeit mehr.

Habe ich nun also Angst, mich am Coronavirus anzustecken? Denn weder will ich sterben noch schwer erkranken. Und selbst meinen Feinden wünsche ich keinen Erstickungstod wie Covid-19 auszulösen in der Lage ist. Aber ich bin hoffnungsfroh. Ich glaube fest daran, dass mein Immunsystem kräftig ist. Sich mit dem fremden Eindringling auseinandersetzen kann und Mittel finden wird, meine Gesundheit zu erhalten oder wiederherzustellen. Und sollte ich mich infizieren und erkranken, werde ich große Angst haben. Im besten Fall sind dann Menschen um mich herum, die sich anstecken lassen von meiner Angst. Ohne dabei den Kopf zu verlieren.

Ich wünsche mir sehr, dass es uns als Menschen mit Blick auf diese aktuell sich ereignende Pandemie global gelingen kann, mehr über gegenseitige Abhängigkeit nachzudenken. Über Ansteckungsprozesse. Und Bewältigung von unaushaltbar scheinenden inneren wie äußeren Katastrophen. Und darüber, wie die Bewusstheit gegenseitiger Abhängigkeit die Welt verändern könnte. Und wie sehr zu große Angst vor Ansteckung dringend notwendige Veränderungen verhindert. Und dass nicht jede Angst real ist. Manche jedoch schon.

2 Gedanken zu “Über Ansteckungsängste in Zeiten von Corona

  1. Kopfstimme sagt:

    Wahnsinnig spannender Blog! Freue mich dich gefunden zu haben 🌞

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    1. SR sagt:

      Danke. Das freut mich wirklich sehr, wenn du mich gerne liest.

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