Letzte Woche wurde ein Patient auf Corona getestet, wenn er passende Symptome aufwies und im Vorfeld Kontakt mit einem nachgewiesenen Infizierten hatte oder aus einem Hochrisikogebiet kam. So oder so ähnlich lauteten die Kriterien. Stand gestern werden möglichst ALLE Patienten mit respiratorischen Symptomen getestet, bestenfalls alle Mitarbeiter des Gesundheitssystems (wenn es denn nur genug Tests und Schutzkleidung gäbe). Ich kenne nicht im Einzelnen die Ideen, die hinter den Empfehlungen (mittlerweile vermutlich Vorgaben) und Flussdiagrammen für Ärzte stehen, auch wenn es mir immer wieder jemand zu erklären versucht. Ich merke mir das irgendwie nicht.
Bis vor zwei Tagen war das Robert-Koch-Institut die Autorität des Landes bezüglich Aktualität der Zahlen an Infizierten sowie Toten und Genesenen. Man konnte sich, wollte man sich nicht in die Wissenschaftspresse einlesen, also einigermaßen orientieren an einer durch Wissenschaftlichkeit und Besonnenheit präsenten und offiziell anerkannten Instanz. Umso beruhigender die Worte von Herrn Wieler, dass sich bereits positive Auswirkungen der Ausgangsbeschränkungen und Alltagseinschränkungen der deutschen Mitbürger abzubilden begännen. Das Social Distancing der zumindest mittleren Altersgruppen schien also zu greifen. Man durfte hoffen. Dass es Deutschland nicht gar so hart treffen würde wie die Italiener, die Spanier, die Franzosen und neuerdings die Amerikaner. Wir alles richtig gemacht haben. Schnell genug. Effizient genug. Durchgreifend genug. Zudem mit einem Gesundheitssystem der Extraklasse in der Pole Position. Heute wurden nun kritische Stimmen gegenüber dem RKI laut. Ich kann keine Rechercheergebnisse vorlegen, welche Presse da welche Nachrichten wiedergab. Ich nehme die mediale Wirkung immer nur als das Atmosphärische wahr. Das, was einem bei Google entgegenspringt. Und damit das, von dem ich vermute, dass es die meisten Deutschen lesen, auch wenn sie sonst wenig lesen. Herr Wieler ist nun also diskreditiert. Er ruderte dann auch gleich in die Gegenrichtung und schlug sich auf die Seite der Angst, der Gefahr. Keiner, auch nicht die jungen Menschen sollten sich in Sicherheit wiegen. Wir stünden erst am Anfang der Epidemie.
Ich weiß nicht, wem ich glauben kann. Was ich glauben soll. Was richtig ist. Oder nicht. Sind wir bedroht? Oder ereilt uns lediglich ein Ereignis, das aufgrund seiner Geschwindigkeit und seiner Unkontrollierbarkeit so bedrohlich wirkt, schlussendlich aber im Großen und Ganzen in seiner (faktischen, NICHT emotionalen) Dimension überschaubar bleiben wird, wenn wir in einigen Monaten darauf zurückblicken? Was ist eigentlich das Schlimme an dieser Pandemie? Was ist das Beängstigende? Und an wem oder an was kann ich mich orientieren?
Ich erinnere mich an meine Pubertät. Meine Tagebucheinträge aus der Zeit um das Alter von 14 Jahren herum. Ich erinnere glühende Pamphlete über das Richtige und das Falsche. Und an mich als die Richterin über sowohl das Eine als auch das Andere. Und ich erinnere gut die zahlreichen Momente, meist Wochen oder Monate später, wenn ich einige Seiten zurückblätterte und die ehemals unanfechtbaren Reden überflog. Die Schamesröte im Gesicht über soviel Hybris und Rechthaberei. Manche Seite wurde herausgerissen, eine ganze Kladde im Waschbecken verbrannt.
Mir fehlte damals die innere Orientierung, der eigene Maßstab (auch wenn ich natürlich der festen Überzeugung war, dass gerade Gegenteil der Fall sei). Ich musste die Welt und andere sowie deren Meinungen in richtig und falsch einsortieren, um nicht verloren zu gehen. Ich befand mich in der vielleicht größten Entwicklungskrise meines bisherigen Lebens. Auch wenn ich faktisch mittlerweile fast drei Mal so alt bin, Corona erinnert mich an damals. Manchmal fühle ich mich wieder wie 14. Und die Scham ist brandaktuell. Gerade in diesen Tagen, wo heute das, was gestern noch glühend von mir vertreten wurde, nicht mehr gilt, weil die Regeln sich geändert haben. Oder wenn ich mich dabei ertappe, die Meinung eines von mir geschätzten Menschen als die eigene ausgegeben zu haben, bevor ich überhaupt eigenständig nachgedacht habe. Oder wenn ich mich danach sehne, dass mir jemand wirklich Wichtiges sagt, was denn nun wirklich stimmt und ich unbedingt glauben sollte.
Es hilft nichts. Es wird wohl keine zufriedenstellende Antwort auf die falschen Fragen geben. Vielleicht wird es gar keine zufriedenstellende Antwort geben. Ich habe beschlossen, weiterhin Pamphlete zu verfassen und starke Überzeugungen zu vertreten, bevor ich alles recherchiert habe, was man für eine dem Richtigen sich möglicherweise annähernde Entscheidung theoretisch wissen müsste. Der Scham zum Trotz. Und bestenfalls schäme ich mich irgendwann nicht mehr zu sehr für vergangene Überzeugungen, die sich in der Zukunft als unreif herausstellen. Weil ich so oder so wieder etwas gelernt habe, was mir helfen kann, die innere Pubertät zu überwinden.
Starke Überzeugungen und Pamphlete sind gut, denn Sie geben uns Kraft, die aus uns selbst heraus erwächst. So eine Art Autotransfusion. Aber wie eigentlich alles haben auch sie (mindestens) zwei Seiten. Die Empfänger unserer Botschaften verstehen sie auf ihre individuelle Art. Dessen sollten wir uns um so mehr bewusst sein, je stärker unsere eigenen Überzeugungen sind. Sozusagen einen Teil der Kraft in Achtsamkeit, Reflektion und Bewusstheit investieren. Diese Investition wird uns im Ergebnis nicht nur noch mehr Kraft sondern vielleicht sogar das bescheren, wonach wir alle so sehr streben. Glück.
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Den Hinweis darauf, sich dessen bewusst zu sein, dass die eigene Botschaft sehr unterschiedlich verstanden werden kann, finde ich wichtig. Wo du den gedanklichen Schritt zum Glück über Bewusstheit und Achtsamkeit gehst, ist mir allerdings nicht deutlich geworden.
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Zumindest in meinem Leben ist der Zustand konzentrierter Achtsamkeit selten. Zugleich empfinde ich Ihn als erstrebenswert. Das erreichen dieses Zustandes gibt mir ein Gefühl von Verbundenheit und macht mich glücklich.
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