26. April 2020
Lieber F., wie schön, mal wieder persönlich gesprochen zu haben. Mit Worten und mit Klang. Auch wenn die Umarmung noch bis August warten muss 🙂 Habe gerade prompt deinen Text erneut gelesen. Eine wohltuende Vorstellung, mit dir auf der Wiese zu liegen und gemeinsam zu phantasieren. Ich habe früher schon gerne Wolkenbilder gemalt. Auf der Wiese hinter dem Haus. Ausgetretene Pfade verlassen, neue Wege beschritten, ganz im Geheimen, ganz für mich. Tja, wenn das nur heute noch so einfach wäre, wo ich kein Kind mehr bin.
Warum sind wir wohl AnalytikerIn geworden? Hast du eine Theorie für dich, die aufgeht? Waren wir vielleicht schon immer besonders wirkungsvolle Gefäße für die Projektionen anderer und es somit gewohnt, so oder so und so oder so gesehen zu werden. Mannigfalte Gestalten anzunehmen. Keine eigene Gestalt entwickeln zu müssen. Oder können. Haben wir das immer schon nur im Geheimen geübt? Auf der Wiese hinterm Haus? Haben wir möglicherweise durch unsere Berufswahl lediglich aus der Not eine Tugend gemacht, die heute unser Leben bestreitet? Sind wir noch auf der Suche nach der eigenen Gestalt? Oder haben wir aufgegeben und den Auftrag an unsere Patienten abgegeben. Die dann auf die Bühne bringen sollen, was uns nicht gelungen ist.
Ich möchte dich nicht entmutigen, bevor du selbst das Abenteuer Elternschaft kennenlernen konntest. Und ich frage dennoch. Gibt es wirklich Menschen, die fähig wären, in ihrem Kind etwas ganz Eigenes zu sehen und nicht nur das Bild der eigenen Träume, der unerfüllten Sehnsüchte, abgewehrten Ängste, erhofften Wünsche? Ich habe das bisher kaum geschafft. Vielleicht nähere ich mich im Schneckentempo an. Aber ist das überhaupt Sinn der Sache? Die Projektionen zurückziehen, meine ich. Welche Verbindung bleibt dann? Ist das nicht die gleiche Frage nach dem Unterschied zwischen Verliebtheit und Liebe? Wie ist das mit dem Verlieben? Und einer beginnenden therapeutischen Beziehung? Und der Geburt eines Babys? Neuen Freundschaften. All diesen Verheißungen auf etwas Neues. Die Erlösung von…
Ich bin in den letzten Jahren immer mehr mit diesen Fragen beschäftigt. Können Beziehungen wirklich mehr sein als gegenseitige Besetzungen für die immer gleichen Rollen. Schicksalhafte Synchronizitäten, in welchen wir aneinander und miteinander unsere Geschichten wiederholen, modifizieren, bestenfalls ein wenig erweitern. Uns auf jeden Fall benutzen. Brauchen und missbrauchen zu je ganz individuellen Teilen. Sind wir bei all dem wirklich fähig, den Anderen als verschieden beziehungsweise unterschiedlich zu erkennen und wenn ja, nach wie vielen Jahren und in welcher Beziehungsform?
Lieben – das scheint mir mehr und mehr etwas für Außerirdische zu sein. Aber vielleicht gelingt es mir auf der Wiese der Phantasie ja, eine Außerirdische in mir zu entdecken. Wo ist mein Denkfehler? Können wir die Wiederholung wirklich überwinden? Und wenn nicht, wie kann etwas Neues entstehen? Ich würde so gerne glauben, dass der Andere getrennt von mir existiert und dennoch eine Verbindung finden. Es würde meine Ängste lindern. Die Angst vor der Entscheidung, mich entweder im Anderen aufzulösen oder aber getrennt zu sein. Abgeschnitten. Einsam. Ohne Hoffnung.
Ich habe bisher immer nur den Spiegel im Spiegel gesehen.
Ich glaube, das war möglicherweise das Anstrengende heute an Arvo Pärt für mich. Er ist einfach kein Bach. Er beruhigt nicht durch Klänge, in die man sich vertrauensvoll versenken kann. Er hält einem den Spiegel vor. Und jedes Mal kann man etwas Anderes von sich entdecken. Hat etwas von Identitätsdiffusion. Die Kontinuität besteht quasi in der Wiederkehr der Veränderung und der Wiederholung des Immergleichen zugleich. Heute sind wir an ihm gescheitert. In beiderseitigem Einverständnis.
Ach gäbe es nur mehr Sicherheiten. Ach könnte ich mich nur besser langweilen. Gute Nacht.