Liebe S,
vielen Dank für deine Einladung an diesem Briefwechsel teilnehme zu dürfen. Als kleines Dankeschön würde ich dir gerne ein Text von einem argentinischen Schriftsteller anbieten (Präambel zu der Unterweisung im Uhraufziehen – Julio Cortazar):
Denk daran: wenn man dir eine Uhr schenkt, schenkt man dir eine verteufelte kleine Hölle, eine Kette von Rosen, ein Verlies aus Luft. Man gibt dir nicht bloß die Uhr, alles Gute zum Geburtstag und hoffentlich hast du viel von ihr, denn sie ist ein gutes Fabrikat, eine Schweizer Uhr mit Rubinanker; man schenkt dir nicht bloß jenen stummen Totenvogel, den du dir ans Handgelenk binden und mit dir herumtragen wirst. Man schenkt dir – unwissentlich, das ist das Schreckliche, unwissentlich – schenkt man dir ein neues gebrechliches und prekäres Stück deiner selbst, etwas, das dein, aber nicht dein Körper ist, das du mit Riemen an deinen Körper binden musst wie ein sich verzweifelt an dein Handgelenk hängendes Ärmchen. Man schenkt dir die Notwendigkeit, sie alle Tage aufzuziehen, die Verpflichtung sie aufzuziehen, damit sie weiterhin Uhr ist; man schenkt dir die Besessenheit, in den Auslagen der Juwelierläden, durch die Rundfunkzeitansage, beim Telefondienst die genaue Uhrzeit festzustellen. Man schenkt dir die Sorge, sie zu verlieren, die Furcht, dass sie dir gestohlen wird, zu Boden fällt und zerbricht. Man schenkt dir ihre Marke und die Gewähr, dass es eine bessere Marke ist als andere, man schenkt dir die Neigung, deine Uhr mit allen übrigen Uhren zu vergleichen. Nicht dir schenkt man eine Uhr, du bist, was man schenkt, dich bringt man der Uhr zum Geburtstag dar.
Ich habe mich auch gefragt, warum ich genau den Text dir „schenken“ wollte. Es fiel mir dann ein, dass du in deinem Beitrag zu „sozial disntancing“, dich mit den möglichen Chancen auseinandergesetzt hast, die diese sehr schwierigen Corona-Zeiten uns anbieten könnten (du bist nicht alleine in der Suche, Slavoj, Giorgio und Byung setzen sich mit dem Thema auseinander – https://www.welt.de/kultur/plus206681771/Byung-Chul-Han-zu-Corona-Vernunft-nicht-dem-Virus-ueberlassen.html). Ich glaube der Text von Julio schildert genau das Gegenteil, von dem was du damals versuchst hast: Ein Geschenk kann für uns Zwängen, Hemmungen und Einschränkungen bedeuten. Kann vielleicht die Frage lauten, ob es nicht genauso wichtig ist, was in der Realität passiert, wie das was wir mit ihr machen (Salut, alte Sartre!)?
Eigentlich wollten wir über etwas Anderes schreiben. Was kann die Psychoanalyse (Touché: was können wir) zu der aktuellen Krise beitragen.
Was die Psychoanalyse zu den wichtigen Themen unserer Gesellschaft anzubieten hat, ist eine Frage, die mich seit Jahren beschäftigt. Die aktuellen Umständen bedeuten eine große Versuchung, etwas zu unternehmen, was unser Urvater erfolglos schon versucht hat: Psychoanalytische Antworten zu soziologischen Fragen anzubieten. Ich glaube, andere Wege könnten fruchtbarer sein. Ja, die soziologischen Texte von Sigmund haben, glaube ich, große Probleme. Die Texte, die sich mit Kunst beschäftigen, sind dafür einen sehr unterschätzten Beitrag der psychoanalytischen Literatur. Ich würde gerne diese Bereiche weiter explorieren; lieber damit experimentieren (außerhalb vom Perimeter ein paar Schritte gehen). Ich spiele mit der Idee, dass das Experimentieren genau das ist, was die Psychoanalyse anbieten kann: Die Freiheit zur Pareidolie (Form und Inhalt in abstrakten Dingen zu erkennen). Als du von Spiegelung und Projektionsflächen geschrieben hast, habe ich mich gefragt ob nicht genau das ist, was ich in meiner therapeutischen Arbeit mache. Mich anzubieten, als Mitspieler um auf einem imaginären Wiese mit Anderen zu liegen und versuchen in der Form der Wolken am Himmel, Blumen, Katzen, aber auch Drachen und Teufeln zu finden. Mache ich überhaupt etwas anderes?
Was haben diese Überlegungen mit der frage zu tun? Ich weiß es nicht genau. Ich denke aber, dass viele von unseren Routinen erschüttert worden sind. Kann diese eine Chance sein? Ich glaube schon. Eine Routine kann eine ‘durch Übung erworbene Gewandtheit, Fertigkeit, Erfahrung’ sein, sie ist, wenn wir an ihre lateinische Wurzeln denken, eigentlich nicht anderes als ein keiner Weg (keine Angst, ich bin nicht immer so etymologisch unterwegs). Das „Wegchen“ ist und bekannt und vertraut. Diese Verniedlichung kann verbergen, dass es eigentlich uns sehr schwer fallen würde diese bekannt Wege nicht zu benutzen. Das spannende (und auch das tragische), ist, dass diese Routine einmal eine via rupta waren (glaubst du, dass M uns mit den lateinischen Begriffen helfen könnte?). Was war diese via rupta? Ein ‘durch den Wald geschlagener Weg’. Meine Vermutung ist, dass wir in vielen Hinsichten in unseren „Wegchen“ gefangen sind. Und auch wenn vielen von unseren Routinen gesperrt zu sein scheinen, viele andere (viel tiefere Denk-Routinen) sind unberührt. Wie viele Menschen erlauben sich mit der Fantasie zu spielen und sagen, dass ab jetzt irgendwo in Urlaub zu fliegen eine sehr durchdachte Entscheidung sein wird, die wir nicht mehr wie 10 Mal in unserem Leben machen werden? (Dafür werden es aber alle Menschen machen können). Oder vielleicht, dass ab jetzt undenkbar sein wird, dass Gesundheitssysteme so unterschiedlich auf eine Krankheit reagieren können, weil alle genau so gut vorbereitet sein werden? Das nie wieder die Entscheidung zwischen Wirtschaft und Gesundheit uns beschäftigen wird? Mir fällt es mindestens sehr schwer. Mir fällt es vielleicht so schwer, weil ich in meinen Denk-Routinen eingesperrt bin.
Kann die Psychoanalyse die Menschen die bereit sind mitzuspielen helfen, neue Wege zu schlagen? Können wir Menschen motivieren sich die Pareidolie zu erlauben, und in eine Uhr auch was anderes zu erkennen als die Sorge, sie zu verlieren? Warum nicht das Gefühl samstags die Zeit als solche mit unserer Uhr auf dem Nachttisch liegen zu lassen. Vielleicht die Möglichkeit mit erstaunen zu erkennen das wir sehr oft pünktlich um 21:20 an einem geliebten Freund denken. Oder einfach ein Lächeln um 10:10 zu erkennen.
Bis bald,
F