Hören mit dem dritten Ohr

Assoziative Reflexionen zur inneren und äußeren Welt

Es ist schon witzig. Seit Jahren denke ich darüber nach, über ein psychoanalytisches Thema zu promovieren. Mich also über einen längeren Zeitraum mit einer spannenden Frage systematisch zu beschäftigen und nebenbei noch einen schicken Doktortitel zu erstehen. Mal davon abgesehen, dass mir mein Leben dafür eigentlich kaum Freiräume lässt und es zudem nur noch wenige analytische Lehrstühle gibt und die Einordnung in hierarchische Strukturen einer universitären Einrichtung auch nie mein Ding war, fehlte es mir dabei einfach auch an einer zündenden Idee. Zuletzt war ich dabei gelandet, mir die Beziehungsgestaltung meiner therapeutischen Behandlungen auf einer mikroanalytischen Ebene mit qualitativen Forschungsmethoden genauer anschauen zu wollen, um einer Antwort auf die Frage, die schlussendlich alle psychotherapeutischen Schulen umtreibt, nämlich „Wie wirkt therapeutische Beziehung eigentlich?“, unter einer neuen Perspektive näher zu kommen. Denn dass die therapeutische Beziehung den zentralen Faktor bei Veränderungsprozessen darstellt, darüber sind sich bei allen Streitigkeiten doch alle einig. Ich habe sogar schon ein halbfertiges Exposé in der Schublade, um auf die Suche nach passenden Doktoreltern zu gehen. Und während ich seit einigen Wochen nun hier in diesem Forum schreibe, ist eine neue Idee in mir gewachsen, die sich gestern kundgetan hat. Warum sollte ich eigentlich nicht unabhängig von normalwissenschaftlichen Rahmenbedingungen systematisch nachdenken können? Doktortitel sind schick, zugegeben. Und mögen mitunter wirksam vor Angriffen auf die eigene Minderwertigkeitsangst schützen. Als untrüglicher Beweis sozusagen für die Ernsthaftigkeit des eigenen Denkens, bestätigt von anerkannten Größen. Aber geht es mir nicht genau darum? Um die Befreiung aus der immerwiederkehrenden Position der Unterwerfung? Wo Sex immer nur Sex bleiben wird und nur zufällig mit viel Glück das Begehren hin und wieder trifft? Gut, dieser Gedankensprung ging jetzt vielleicht ein bisschen schnell und ist zudem vielleicht ein bisschen radikal. Ich versuche, mich zu mäßigen.

Ich beschäftige mich in meinem Beruf und in meinem ganz normalen Alltag mit Beziehungsstrukturen in der Tiefe seelischen Erlebens. Wenn ich hier den Begriff der Tiefe wähle, dann meine ich damit kein irgendwie geartetes pathetisches Erleben von einem postulierten Mehrgewinn oder „wirklichen“ oder „authentischen“ Dasein, das erreicht werden müsste. Authentizität ist meiner Ansicht nach auf sehr unterschiedlichen Ebenen und auf vielfältige Arten erlebbar. Es geht mir auch nicht darum, irgendwelche Wertigkeiten einzuführen dahingehend, wo sich wer mit was zu beschäftigen hat. Ich kann nur zur Verfügung stellen, was mich persönlich beschäftigt. Indem ich genau das, was ich gut kann, öffentlich zugänglich mache. Seelenstrukturen zu erforschen. Wie sie sich ausgebildet haben, wie sie gewachsen sind, dabei behindert wurden, Aus- und Umwege gesucht, Verformungen erlitten und sich mit den Umständen des Lebens verschränkt haben. Wie sie sich in unseren Körperstrukturen wiederfinden, ja möglicherweise identisch mit diesen sind, unsere Beziehungsgestaltungen prädestinieren, unsere Art, wie wir die Welt, andere und uns selbst wahrnehmen. Ich beschäftige mich mit dem, was für mich die alles durchdringende Basis individuellen Lebens ist. Und wie diese basale Struktur unser tägliches Leben bis hinein in alle noch so banalen Bereiche prägt. Ich betreibe quasi Seelenkunde des Alltags. Wobei mir an dieser Stelle wichtig ist zu betonen, dass ich mitnichten jedes Gegenüber in jedem freundschaftlichen oder sonstwie privaten Gespräch unter dieser theoretischen Brille analysiere – eine Angst, die manche Menschen im Umgang mit Psychotherapeuten ja gerne befällt. Ich habe gelernt, meine Studien weitgehend auf das Therapiezimmer und mich selbst zu beschränken. Und auch in meinen Praxisräumen geht es nicht primär darum, mein Gegenüber zu verstehen. Davon habe ich nichts und der Andere auch nicht. Ich erprobe mich vielmehr mit viel Disziplin immer wieder darin, der Verführung eben genau nicht anheim zu fallen, ein scheinbares Wissen über den Anderen zu generieren. Das kann letztlich nur er selbst. Eher stelle ich mich als Resonanzraum zur Verfügung, in dem der Andere etwas von sich entdecken kann, wenn er denn möchte. Damit ich für andere einen solchen Raum bieten kann und weil ich selbst einen gewissen Reichtum dahingehend anstrebe, suche ich viel. Versuche, mir immer wieder neue Bereiche des Erlebens in mir zu erschließen. Indem ich Menschen, Orte und Erfahrungen aufsuche, die wiederum mir einen Resonanzraum bieten können, in dem ich mehr vorfinde, als ich bisher fähig gewesen wäre, zu entdecken. Ich suche sozusagen Räume der verborgenen Wünsche.

Nun ist diese Mischung aus Alltagsphilosophie und – psychologie, die ich da betreibe, leider keine gemeinhin anerkannte Normwissenschaft und passende Doktoreltern zu finden wahrscheinlich eher schwierig. Mit was und wie sich die zeitgenössische Philosophie sich gerade mit dem Menschen beschäftigt, weiß ich zu wenig. Um diese Bildungslücke werde ich mich auf der Suche nach meinem Begehren vielleicht kümmern. Was ich sagen kann ist, dass die moderne klinische Psychologie, wo ich ja herkomme, meiner Ansicht nach nicht allzu viel beizutragen hat zur Erforschung von Seelenzuständen. Viel zu gefährlich für die eigene Gesundheit. Was ich seit Jahren beobachte ist vielmehr, dass sie sich vorwiegend auf die Beschreibung festgelegter, hin und wieder modifizierter pathologischer Kategorien beschränkt. Und diese dann zu bestätigen sucht, indem Methoden zur individuellen „Abschaffung“ derselben Kategorien produziert werden. Konkret: Patient mit depressiver Episode (nur ein Beispiel von vielen), gekennzeichnet durch eindeutig identifizierbare Symptome, wird behandelt mit evidenzbasierter Methode, welche nach empirischen Kriterien verspricht, ebensolche Symptome zu heilen, also beispielsweise antidepressiv zu wirken. Und das funktioniert ja tatsächlich. Bis zu einem gewissen Grad zumindest. Immer in Abhängigkeit von der zugrunde liegenden Gestalt des Leidens, der Überzeugungskraft des Behandlers sowie der Vertrauensfähigkeit des Patienten. Wie es in diesem Prozess der propagierten Heilung nun aber zu Stigmatisierungen von psychisch Kranken kommt, darf nicht so recht verwundern. Denn schließlich sind es ja die Kategorien der Fachleute, welche Angebot und Nachfrage regeln. Nach den Prinzipien des Marktes entstehen also folgerichtig Krankheiten und Bedürftigkeiten, deren Namen bis dato nicht bekannt waren. Ob dies wirklich ein Zugewinn ist und die Betrachtung menschlichen Leids unter psychopathologischen Begrifflichkeiten uns als Menschen im Gesamten weiterbringt oder ob es nicht lediglich dazu führt, dass einige wenige (wenn auch wenigstens immer mehr) von der funktionalen Mehrheitsnorm ausgegrenzt werden und immer nur von einer Position Außerhalb ihre Daseinsberechtigung zu erlangen versuchen, während die scheinbare Mehrheit sich als die Gesunden, die Funktionalen, diejenigen ohne leidvolle Bedürftigkeiten, quälende Ängste oder unlösbar scheinende Konflikte betrachten darf. Ich weiß nicht so recht. Aber man kann ja nicht das komplette System auf einmal in Frage stellen. Was bliebe dann? Und schließlich profitiere ich ökonomisch durchaus davon, als Akteurin des Gesundheitssystems von ebendiesem für meine therapeutische Arbeit entlohnt zu werden. Für die Behandlung „der Kranken“. In meinen Anträgen an die Krankenkassen muss ich ja auch ebendiesen Krankheitswert ausführlich darlegen, um die Psychotherapie als Krankenbehandlung auf Kosten des Solidarsystems zu rechtfertigen. Wieder lerne ich etwas über Doppelbödigkeiten in meinem eigenen Leben. Und stelle fest, dass es noch viele Fragen zu fragen gibt. Denn wie glaubwürdig ist es, ein System zu kritisieren, von welchem ich gleichzeitig derart profitiere? Wo ich doch eigentlich davon überzeugt bin, dass ich nicht „psychisch Kranke“ behandle, sondern lediglich durchschnittliche Menschen, die an etwas leiden, was anderen Zeitgenossen nur nicht auffällt. Weswegen diese anderen aber keineswegs gesünder sein müssen. Sondern eben nur funktionaler. Besser angepasst an die Anforderungen ihrer Umwelt. Sprich: ich könnte theoretisch für jeden Menschen eine psychotherapeutische Behandlung ohne Weiteres begründen, wenn er denn nur den Weg zu mir fände. Da es in unserer Welt wahrlich genug Gründe gibt, in Zweifel zu geraten, zu stolpern, nicht weiterzukommen, Hilfe zu brauchen. Tja. Geht leider nur über die Kategorie „krank“. Psychisch gestört oder zumindest beeinträchtigt. Ich kann schon verstehen, dass so der Weg in meine Praxis ein schwerer ist. Es ist ein Weg des Ausgeschlossenwerdens. Und wer geht den schon freiwillig?

Ich bin wahrscheinlich ein bisschen arg streng. Aber ich bin eine Priestertochter. Die Moral wurde mir quasi in die Wiege gelegt. Und ich will hier nicht behaupten, ich hätte den Höhepunkt meiner Emanzipationsbewegung schon erreicht. Wie gesagt, ich suche mein Begehren noch. Dabei bin schon sehr beschäftigt mit dem, was derzeit als Psychologie des Menschen anerkannt zu sein scheint. Was ist wirklich zu erwarten von einer „Seelenkunde“ zum menschlichen Dasein, die an ihrer Basis der universitären Ausbildung zunehmend als empirische Naturwissenschaft, stellenweise gar als Wirtschafts- oder Verhaltenswissenschaft konzeptualisiert wird, ihre transdisziplinäre Verbindung zur Geisteswissenschaft dabei zunehmend verloren geht, die Psychoanalyse beispielsweise schon in den Ansätzen lächerlich gemacht wird als anachronistische Bewegung einer Minderheit, deren theoretische Weiterentwicklung von der universitären Psychologie nahezu geleugnet wird und auch andere Humanwissenschaften lediglich eine Randerscheinung der Lehrplaninhalte darstellen. Vernachlässigbar. Wo in der Breite der Gesellschaft eine Vorstellung von Psychotherapie kursiert, als ginge es dabei um eine Art Reparaturwerkstatt, in welcher effiziente Methoden zur Anwendung kommen, um zurückkehren zu können zur funktionalen Lebensbewältigung. Auch dann, wenn dieses Leben, das da bewältigt werden soll, möglichweise das „falsche“ für betreffende Person ist. Für mich bedeutet Psychotherapie mehr als eine Rückkehr zu einem Status Quo vor der „Erkrankung“. Es ist der Versuch einer Annäherung an sich selbst (was immer das sein soll), das eigene menschliche Dasein, die Auseinandersetzung mit den vielfältigen Anforderungen an ein menschliches Leben über die Spiegelung in einem hilfreichen Gegenüber. Ob ich damit meine verhaltenstherapeutisch orientierten Kollegen angreife, die häufig den schnellen Weg zur eigenen Praxis eingeschlagen sind, wo sie bestens ausgerüstet mit handfesten Methoden operieren? Ohne hunderte Stunden von Selbsterfahrung? Vielleicht ein bisschen. Aber eigenlich nein. Denn mein Eindruck ist, dass der Prozentsatz an Psychotherapeuten, die sich wirklich ernsthaft mit der menschlichen Seele und ihren Grundbedingungen, den strukturellen Kompliziertheiten, Abwehrmechanismen und Veränderungspotentialen beschäftigen, über die methodischen Schulen hinweg ungefähr gleich sein dürfte. Vielleicht nicht direkt am Ende einer Therapieausbildung. Aber doch nach einigen Jahren praktischer Tätigkeit im therapeutischen Geschäft. Es gibt überall Menschen, die nach ihrem Begehren suchen. Und die aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommen. Auch unter uns Therapeuten.

Rahmenbedingungen des Denkens. „Vom Sex zum Begehren“ also der Titel meiner alternativen Doktorarbeit. Ich habe just das Gefühl, dass sich der Titel noch einige Male ändern könnte. Die Suche nach meinem Begehren scheint mir jedoch etwas Beständiges an sich und darin zu haben. Mal sehen, welche Wege ich dafür gehen muss. Und wie ich vorankommen werde. Fürs erste war offensichtlich erst einmal eine Verortung meines eigenen Denksystems nötig.

2 Gedanken zu “Rahmenbedingungen des Denkens

  1. Meertau sagt:

    Wir sind Kolleginnen 😃 und ich möchte Sie unbedingt für die Promotion bestärken. Eine Stelle an der Uni ist ja nicht notwendig und man kann ja auch als Externe promovieren. So habe ich es vor 13 Jahren im zarten Alter von 43 gemacht und freue mich heute noch über den Titel, für den man neben dem Job mehr tun muss, als junge Absolventen, die einfach in vorgefertigten Projekten bleiben.
    Good luck 👍🍀

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    1. SR sagt:

      Danke für die persönliche Offenbarung und Ermutigung. Im Moment genieße ich die Freiheit des assoziativen Schreibens. Genau, die Freiheit. Ich werde sehen, wo ich ihr hinfolgen werde. Über Corona und die weitverbreitete Unfähigkeit eines Diskurses über Differenzen wäre aus psychoanalytischer Sicht ja auch einiges zu sagen. Liebe Grüße

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