Hören mit dem dritten Ohr

Assoziative Reflexionen zur inneren und äußeren Welt

Wie kann ich einen Brief schreiben, der keiner ist? Der einen Adressaten hat und dennoch nicht. Der gerichtet ist und gleichzeitig die Richtung noch gar nicht kennt. Ich muss es ausprobieren, wenn ich weiterkommen möchte in dieser Auseinandersetzung mit mir selbst über den Weg eines Anderen. Ich will schreibend in mich hineinhören, da ich bisher keine antwortenden Worte finden konnte bei der Vorstellung, die Privatheit des Kontakts zu wahren. Ich brauche (noch) diese spezielle Form der Öffentlichkeit.

Der zentrale Punkt betrifft ja genau diese Öffentlichkeit. Die Frage danach, was privat zu bleiben hat und was hinausgetragen werden darf aus einer Beziehung. Was als zu persönlich angesehen wird und sich nur in der Abgeschiedenheit einer Zweiersituation ereignen darf. Es betrifft die Frage der Intimität. Der Verletzung von Intimitätsgrenzen, der Wahrnehmung eines Verhaltens als Grenzüberschreitung und Vertrauensbruch. Und es geht auch um die Frage der richtigen oder besser der passenden Nähe und Distanz zwischen zwei Menschen. Passend für beide Seiten. Ein Prozess, der ausgehandelt werden muss. Manchmal mithilfe einer gewissen Öffentlichkeit. Auch wenn das nur eine Seite so sieht. Es geht auch um die Verteilung von Macht. Ja, ich glaube es geht sehr viel um Macht. Und ich kann dem durchaus zustimmen, dass das „tiefe Herz kein Oben oder Unten sucht, diese Sprache nicht spricht“. Aber bevor diese Ebene der tiefen Kommunikation zwischen Menschen erreicht werden kann, gibt es ein paar Schichten zu überwinden. Selbst wenn einer der beiden Beziehungspartner in seinem Leben schon die Erfahrung gemacht haben mag, zu einer innigen Verbindung mit einem Gegenüber in der Lage zu sein, innerhalb derer ein Fluss der gegenseitigen Anregung und Beruhigung entstehen kann, so darf der Weg zu solch einem liebenden Handeln, wie ich es mal nennen will, nicht die Hindernisse verleugnen, welche dem entgegenstehen. So zu tun als gäbe es sie nicht, hielte ich für einigermaßen anmaßend und selbstüberschätzend. Und eine Missachtung des Gegenübers. Es ist meiner Ansicht nach enorm wichtig, die Potentialsdiagnostik für eine Beziehung nicht mit der Realität, also dem, was tatsächlich ist, zu verwechseln. Und im tatsächlichen Jetzt kann eine Überforderungssituation des Einen, welche nicht erkannt wird, schnell ein Ungleichgewicht produzieren. Das ist, was ich mit Machtgefälle meine. Ich habe keine vorgefertigten Antworten für individuelles Beziehungsgeschehen zwischen zwei Menschen mit weiterführendem Interesse aneinander, nur Annahmen. Und Fragen. Die Annahmen könnten trügerisch sein, naiv, schlichtweg einseitig oder zumindest nicht umfassend genug. Für die Fragen gilt gleiches. Ich äußere sie also erst einmal und würde gerne weiter diskutieren. Wichtig ist zu wissen, dass ich auf der Suche bin. Noch nicht gefunden habe. Mich starke Ideale antreiben bezüglich dessen, was ich als mein Begehren phantasiere. Vielleicht unrealistische. Aber das ist möglicherweise gar nicht so wichtig. Es geht um die Suche. Und was gefunden werden kann, ist ja nichts statisch Wartendes, sondern muss am Wünschen gemessen werden.

Ich bin nicht der Meinung, dass etwas, was sich zwischen mir und einem anderen Menschen im Zweierkontakt ereignet, einer Art festgeschriebenen Privatheit unterliegt, die man mit Eintritt in diesen wie auch immer gearteten Kontakt quasi unterzeichnet. Vielmehr gehe ich von einer ziemlich umfassenden Vorstellung von Öffentlichkeit aus. Ich habe da noch nie systematisch drüber nachgedacht, aber weiß schon lange, dass ich mich in meinen Vorstellungen von Intimität und Schutz derselben auf irgendeine Art von vielen anderen zu unterscheiden scheine. Und ich habe dahingehend wirklich schon einige Fettnäpfchen kennengelernt im Laufe meines Lebens. Als würde ich basale Grenzen der Vertrautheit nicht kennen und tölpelhaft einfach drüberlatschen. Als könne jeder mit jedem über alles sprechen. Denke ich das? Ich spreche nicht mit jedem über alles. Aber sicher mit vielen über vieles. Dabei stoße ich immer wieder an Grenzen, die ich nicht verstehe. Es scheint mir etwas mit der Bedeutung von Wörtern zu tun zu haben. Den Möglichkeiten des Sprechens. Ich bin da einigermaßen begabt. Habe Wörter für vieles. Auch für Dinge, die für andere Menschen schlicht unsagbar sind, ja manchmal sogar undenkbar, weit weit weg von Versprachlichung. Für mich ist Sprechen leicht. Das war schon früh so. Seelische Inhalte zu benennen und auszusprechen ist aber nun ja keine Selbstverständlichkeit. Normalerweise lernen Kinder die Schutzmauern anderer Menschen kennen, bevor sie die Sprache lernen. Sprich, wenn sie die ersten Worte für Ungereimtheiten im Erleben mit anderen finden, haben sie meist schon verstanden, dass diese Anderen (in der Regel Erwachsene) nicht besonders gerne auf Sollbruchstellen in ebendiesem Erleben hingewiesen werden. Schon gar nicht von unreifen Dreikäsehochs. Gut, die kann man im Zweifel noch zurechtstutzen. Man sitzt als Großer ja doch am längeren Hebel. Gott sei Dank. Was müsste man sich ansonsten möglicherweise anhören über die eigenen Unstimmigkeiten, Ambivalenzen, gut cachierten Heimlichkeiten in der eigenen Seele. Gut also, dass die Kleinen bei all ihren Fähigkeiten zur tiefen Kommunikation so viel Wert darauf legen, gemocht und eben in dieser Tiefe anerkannt zu werden, unabhängig davon, ob das erwachsene Gegenüber die Fähigkeit dazu besitzt oder nicht. Sie wollen möglichst alles richtig machen. Und lassen ihren Mund nicht allzu viele Wahrheiten kundtun. Vielleicht ist es klug zu nennen, vielleicht ängstlich oder überangepasst. Fakt ist, dass Kinder täglich in ihrem unbewussten und wahren Sprechen, in ihrer seelischen Empfindungsfähigkeit beschnitten werden durch ihre primären Bezugspersonen, welche selbst in ihrer Erlebensfähigkeit eingeschränkt sind. Das ist wiederkehrendes menschliches Leid. Nichts Besonderes. Völlig üblich. In allen Familien. Es geht hier wahrlich nicht um die Schuldfrage. Es geht um Verstehen.

Auch die Familie, in welcher ich aufgewachsen bin, bildet keineswegs eine Ausnahme bezüglich der beschriebenen Mechanismen von Entwicklungsverhinderung. Doch bezüglich der Wörter ist bei mir irgendetwas schiefgelaufen. Vielleicht stimmt meine spontane Hypothese und ich konnte einfach sprechen, bevor mein Wahrnehmungs- und Bewertungssystem hinsichtlich Unstimmigkeiten, Ambivalenzen und anderen Schräglagen schon nachhaltig beeinflusst worden war. Oder eben dieses Wahrnehmungssystem für seelische Inhalte war immer schon besonders ausgeprägt und ließ sich nicht ohne Weiteres unterdrücken. Oder es gab unbewusste Aufträge von Elternseite, Unklarheiten auszusprechen, die selbst nicht benannt werden konnten. Oder ich war einfach nur rotzfrech. Letzteres kann ich mir aber nicht so recht vorstellen, wenn ich meinen immensen inneren Anpassungsdruck, meine wiederkehrende Unterwerfungsbereitschaft und meine Angst vor Grenzüberschreitungen und daraus resultierenden Ausgrenzungsängste über die letzten beiden Jahrzehnte zusammenfassend anschaue. Wörter zu finden für tiefgreifende Prozesse ist für mich einfach nicht so schwer. Und mich treibt die Vermutung um, dass ich dadurch im Kontakt mit Menschen möglicherweise eine Art von Intimität suggeriere, die ich auf einer tiefen Ebene selbst nicht empfinde. Quasi eine persönliche Verbindung verspreche, die ich nicht halten kann. Weil ich nicht an meine Worte gebunden bin. Und weil ich durch intime Worte allein keine Verpflichtung zur Intimität spüre. Schon gar nicht, wenn meinem Gegenüber diese für mich so offensichtliche beziehungsweise offenfühlbare Störung im Kommunikationsprozess entgeht. Er mir auf einer scheinbar gleichberechtigten und intimen Ebene begegnet, welche ich nicht in der Lage bin zu erfassen und vor allem zuzulassen. Wo ich mich in einer haarsträubenden Situation der Ungleichheit befinde, welche ich gleichzeitig auf keinen Fall zugeben kann, weil es meine Unehrlichkeit, aber auch meine Überforderung und Unterlegenheit offensichtlich werden ließe. Und ja auch nicht zu meiner gewählten Ausdrucksweise passt. Als wäre ich dann als Falschspielerin entlarvt. Hochstaplerin. Heiratsschwindlerin. Tja. Man kann zurecht fragen, wer in dieser Konstellation nun die Macht hat. Ist es wirklich derjenige, den ich in meiner projektiven Phantasie als mächtig phantasiere oder bin es ich, die sich verweigert, ihre Kleinheits- oder Fremdheitsgefühle einzuräumen. Beziehung suggeriere, wo ich keine empfinde. Ich würde gerne etwas zu meiner Entschuldigung vorbringen. Denn während das alles sehr manipulativ klingen mag, halte ich mich eigentlich für einen sehr wenig manipulativen Charakter. Entschuldigen kann ich mich derzeit aber höchstens für mein starkes Wollen. Für meine dringliche Suche nach dem Begehren, welche ebenso dringlich auf Hilfe angewiesen ist. Auf Menschen, die die Herausforderung annehmen. Und auch noch auf der Suche sind. Vielleicht bin ich gerade der Macht begegnet. Und vielleicht kann man ihr nur wirklich da begegnen, wo sie nicht schon von vornherein behauptet wird. Sondern sogar abgelehnt. Vielleicht findet man sie manchmal gerade da. Auch wenn das hässlich scheinen mag.

Es ist keine leichte Sache mit der Entmächtigung von Macht. Wer macht den Anfang? Ist es nicht eine zutiefst narzisstische Verkennung, von sich zu behaupten, keinerlei Machtstreben zu beanspruchen? Wie soll es dann möglich sein, innerhalb einer intimen Beziehung anzuerkennen, wenn man projektiv in genau diese Position gesetzt wird. Ob man nun will oder nicht. Weil man sich eben zur Verfügung gestellt hat. Vielleicht nicht ganz zufällig. Wenn die Kollusion sich dann ereignet hat zu behaupten, man habe das so nie gewollt, erscheint mir ein bisschen schwach. Und gemein. Und lässt mich im Regen stehen. Ziemlich pitschenass. So, dass ich gar nicht weiß, was ich antworten kann. Ich bin ja diejenige, dies sich freiwillig unterworfen hat. Diejenige, welche die Augenhöhe nicht erträgt. Diejenige, die sich in ödipale Ängste flüchtet. Ja. Tue ich. Habe ich getan. Ich will da aber nicht stehen bleiben. Ich wünsche mir ja den nächsten Schritt in der Emanzipation. Ich bin sehr an der Auflösung von Ungleichheiten interessiert. Zwischen den Geschlechtern. Aber auch auf anderen Ebenen, wo es um die Konstitution von Fremdheit geht als Gegensatz zu Identitärem. Wo es immer so schwer scheint, den Austausch von Unterschiedlichkeiten als etwas Verbindendes und Verbindliches zu erleben. Ich will das wirklich. Aber ich bin da noch nicht. Und ich brauche Menschen, die auch suchen. Mit mir gemeinsam suchen. Nicht aber welche, die schon behaupten, sie seien bereits an der tiefsten Stelle ihres Seelenlebens angekommen, ab der es kein Weiter mehr gebe. Das wäre tot. Und führt nicht weiter.

Es ist nicht mein Ansinnen gewesen und immer noch nicht oder jetzt noch viel weniger, Intimität in die Öffentlichkeit zu zerren, um sie der Lächerlichkeit preiszugeben. Ich suche die Öffentlichkeit, um die Intimität zu finden, die mir in der Privatheit unserer Begegnung nicht möglich ist bisher. Weil wir von verschiedenen Voraussetzungen auszugehen scheinen. Mir ist dadurch klar geworden, dass es sehr lange dauert (und das meine ich nicht primär zeitlich), bevor ich ein Beziehungsgeschehen als derart privat erlebe, dass eine Art Schutzbedürfnis für meine Intimsphäre anspringt. Wobei ich auch da den Eindruck habe, dass der Schutz meiner eigenen Grenzen anders verläuft als bei den meisten. Oder dir. Aber vielleicht geht es auch um etwas ganz Anderes. Mich hat die Vorstellung zumindest noch nie gestört, dass intime Details meines Lebens erfahren werden. Ob ich die Empfänger nun kenne oder nicht. (Und ich bin mir durchaus bewusst, dass ich diese meine Haltung in einem weitgehend demokratischen System vertrete, wo mein Vertrauen auf ein wohlwollendes oder zumindest nicht primär Schaden des dissidenten Einzelnen suchenden Systems fußt). Was heißt für mich also Intimität und wie steht diese in Verbindung mit der Öffentlichkeit? Intimität ist nicht teilbar. Egal, wie öffentlich sie scheinen mag. Ich verstehe darunter ein äußerst komplexes dynamisches Geschehen, gebunden an die Begegnung zweier (selten mehr) Menschen, im Austausch von tief unbewussten Prozessen, wo der Versuch der Versprachlichung meist hinterherhinkt. Daran kann niemand außerhalb diesen Geschehens so ohne Weiteres teilhaben, auch wenn er ein wortwörtliches Protokoll lesen oder sogar heimliche Filmmitschnitte sehen könnte. Ich will nicht dafür eintreten, dass die ganzen Datenschutzverordnungsregelungen, die uns neuerdings überschwemmen, gekippt werden. Ich halte Intimitätsgrenzen für etwas Wichtiges, auch wenn ich zeitweise finde, dass etwas mehr Vertrauen gut täte. Aber da ich nicht dafür eintrete, dass meine Einzelmeinung zum Maßstab erhoben werden soll, werde ich mich weiterhin an geltende Maßnahmen zum Schutz der Intimsphäre anderer Menschen halten, wo immer das nicht meinen eigenen Prinzipien massiv widerstrebt. Aber was uns angeht. Ich weiß nicht. Ich glaube, auf dem Weg zu mehr Intimität – wenn du das noch willst – können wir (zumindest ich, aber ich bin ja bedeutsamer Teil unseres Wirs) ein wenig Öffentlichkeit durchaus gut gebrauchen. Deshalb erneut hier meine Worte. Und ich habe sie mit Bedacht gewählt. Sie sind mir viel wert. Wie Sie den Weg zu dir finden können, ist dahingegen noch ungewiss.

2 Gedanken zu “Vom Privaten und Öffentlichen…eine Annäherung an Intimität

  1. Birgit sagt:

    Ich bin Schockverliebt in die Texte,die tiefgründigkeit und der sehr tollen Gedankenfluss. Es ist so viel drin zum Nachdenken und reflektieren.
    Aber ja Privatheit ist beides öffentlich und innerhalb der jeweiligen Beziehung jedes auf seiner eigenen Ebene und Schichten.
    Ich freu mich auf weitere Texte.

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    1. SR sagt:

      Oh, ich bin tief berührt von deinem Kommentar. Was ein schöner Start in den Tag.

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