Hören mit dem dritten Ohr

Assoziative Reflexionen zur inneren und äußeren Welt

Vergangenen Sonntag ist die Oma unserer Babysitterin verstorben. 82 Jahre. Nicht mehr ganz jung. Aber fit. Lebte noch zuhause, konnte sich selbst versorgen. Ihr Tod war nicht zu erwarten. Und doch schien ihre Enkelin nicht überrascht. Diese hatte nämlich schon vor vier Wochen verstanden, dass das Leid der Einsamkeit ihrer Großmutter durch die Kontaktbeschränkungen immens sein würde. „Sie versteht einfach nicht, warum sie niemand mehr besucht.“ Die Familie hatte es offensichtlich nicht geschafft, sich über die offiziellen Anordnungen hinwegzusetzen. Auf eigenes Risiko sozusagen. Eine Stunde vor dem Tod durften sie dann zu ihr. Sie wollte nicht mehr ins Krankenhaus. Nicht in diesen Zeiten. Von den Notärzten wurden die Abschiednehmenden ausdrücklich auf die Mundschutzpflicht hingewiesen. Als sie mir das erzählte, kamen ihr die Tränen. Das Warum kann das 19jährige Mädchen nicht verstehen. Das macht sie für mich zu einer so guten Babysitterin für meine Kinder. Ich ärgere mich ein wenig über mich. Dass ich sie in den letzten Wochen nicht noch mehr ermutigt habe, ihre Großmutter zu besuchen. Nicht so viel Angst zu haben vor einem Virus. Die Angst vor der Einsamkeit ernster zu nehmen als es aktuell gemeinhin üblich ist. Und auch nicht so viel Angst vor der Schuld zu haben. Die empfindet sie nämlich jetzt. Das habe ich gestern gespürt. Ich werde sie umarmen, wenn wir noch einmal sprechen sollten. Es ist so schwer, das Richtige für sich zu finden. Zumal mit 19 Jahren.

5 Gedanken zu “Verhältnismäßigkeit

  1. L.M. sagt:

    Ein großes Fass, dass du da aufmachst. Neben der Emotionalität, die hier eine bedeutende Rolle spielt, weil sie spürbar und unmittelbar ist, sollte meines Erachtens aber auch der wenig greifbaren und für die meisten Menschen abstrakten, rationalen Komponente gleichberechtigt Raum gegeben werden. So ist die Frage der Verhältnismäßigkeit eine sehr wichtige. Um sich einer Antwort anzunähern braucht es aber auch die Kenntnis der Wahrscheinlichkeit. Deinen Tag „Schuld“ kann ich hier nicht nachvollziehen, denn Schuld ist an der Pandemie bestenfalls die Menschheit dadurch, dass sie existiert – aber das ist ein theologisch-philosophisches Problem. Statt dessen vermisse ich den Tag der Verantwortlichkeit.

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    1. SR sagt:

      Danke für deinen Hinweis. Ich werde noch einmal nachdenken, ob ich statt Schuld nicht eher Schuldgefühe meinte, was ja ein großer Unterschied ist. Wobei ich schon auch die große Angst vor dem Schuldigwerden (jemanden anstecken, mit was auch immer) ein mir sehr zentraler Aspekt scheint. Als gebe es keine Wiedergutmachung mehr. Ja, es ist ein sehr großes Fass, was durch die Pandemie aufgemacht wird. Und ich will mich davor hüten, mich zum jetzigen Zeitpunkt in Sicherheit darüber zu wiegen, was eine verhältnismäßige Verantwortlichkeit derzeit ist.

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  2. Was Richtig und was Falsch ist – wer kann das schon beurteilen? Ich glaube, das Schlimmste was heute passiert, ist das Vergessen der Menschlichkeit.
    Vor allem – wer darf darüber entscheiden? Im Leben gibt es immer wieder einen Punkt, an dem wir uns für die eine oder andere Richtung entscheiden müssen. Garantie gibt es für gar nichts im Leben – wir können nur nach besten Wissen und Gewissen entscheiden. Verantworten muss es ja auch jeder Mensch für sich selbst.
    Ich weiß auch nicht, ob ich recht habe, aber ich würde auch so entscheiden wie du es für dich überlegst.

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    1. SR sagt:

      Danke für deinen überlegten Kommentar. Was mich sehr beschäftigt ist, wie groß unser Bedürfnis nach Sicherheit doch ist und dass jeder von uns aber andere Voraussetzungen mitbringt, sich sicher fühlen zu können, ganz Unterschiedliches gebraucht wird. Ich sehe eine große Chance in dieser Krise darin, sich selbst noch einmal besser kennenzulernen, die eigenen Maßstäbe ans Leben neu auszuloten. Und ich stimme dir sehr zu: es geht um Selbstverantwortlichkeit. Damit tuen wir uns alle sehr schwer. Aber es ist eine gute Zeit, um über die eigene Mündigkeit nachzudenken und was es dafür noch gebrauchen könnte. Rationale Überlegungen sind eine Seite. Gefühle die andere. Der Versuch einer Zusammenführung wäre schön. Aber Massen sind träge und es braucht denkende Individuen.

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    2. L.M. sagt:

      Warum sehnen sich viele Menschen eigentlich nach Kriterien wie „Richtig“ und „Falsch“? Vielleicht weil es das Leben vermeintlich einfacher macht und hilft, die wahre Komplexität für kurze Zeit zu verdrängen? Aber, mit Verlaub, „[…] das Schlimmste […] ist das Vergessen der Menschlichkeit.“ – ist doch ein ziemlich unreflektierter Allgemeinplatz, oder? „Das Schlimmste“ (Superlativ!) ist hochsubjektiv und – wie ich vermute – aus einem kurzen depressiven Impuls entsprungen? Was ist denn das Schlimmste? Krieg? Folter? Sexualverbrechen? Kindesmisshandlung? Klimawandel? Ausverkauftes Klopapier? Solche Äußerungen helfen doch niemandem weiter. Natürlich bedeutet das nicht, dass man sie deshalb nicht publizieren darf. Sonst hätten wir hier ja auch nichts zu diskutieren. Aber der klagende Unterton macht mich schon ein bisschen wütend. „Das Vergessen der Menschlichkeit“ sehe ich in unserer Gesellschaft nicht. Im Gegenteil. Die aktuelle Krise wirft viele Menschen auf sich selbst zurück. Sie reflektieren mehr als sonst ihr Sein und dessen Sinn. Sicher, dass einige die Regeln zum Schutz aller Menschen nicht befolgen oder auf populistische Weise in Frage stellen, ist über Leichen gehender Egoismus, denn es kann unmittelbar zu Leid und Tod von Mitmenschen führen. Diesen Menschen (zum Glück in der Minderzahl) fehlt es an Weitblick, aber nicht an Menschlichkeit. Denn „Menschlichkeit“ beinhaltet jedwedes Sein und Verhalten aller Menschen. Mit allen Facetten, die den Menschen ausmachen. Und der Mensch ist nicht nur gut.

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