Lieber L. M.,
Danke für deinen ellenlangen Kommentar zu meinem Text „Über Verantwortlichkeit“. Auch wenn ich deinen Hinweis darauf, dass dein Schreiben natürlich nichts Eigenkreatives deinerseits, sondern eine reaktive Auseinandersetzung mit meinem Kommentar auf deinen Kommentar zu einem wiederum vormaligen Beitrag meinerseits darstellt, verstanden habe…Sollte es deine innere Struktur nicht zu sehr unangenehm durcheinander bringen, freue ich mich, wenn du von deinen Autorenrechten Gebrauch machst und sozusagen direkt im Blog antwortest. Weil dieses Forum hier zwar meine Initiative war und gemäß der Wortbedeutung auch bleiben wird, mich aber die Idee treibt, dass hier schreibend genau das stattfinden kann, was mir persönlich an so vielen Orten oft fehlt. Der Versuch, eine offene, ehrliche, kritische, mehrperspektivische Auseinandersetzung mit den Themen der Zeit – den äußeren wie den inneren – anzuregen unter Menschen, die Lust zu denken haben. Wie sagst du es so schön. Mit Herz und Hand.
Es hat mich sehr berührt, dass du den Ball annimmst. Ich war nicht ganz sicher. Zumal die Sache mit der AfD hart an der Grenze war. Hätte auch in die Hose gehen können, das so stehen zu lassen. Aber du hast meine zentrale Botschaft verstanden: den Respekt, der für mich darin liegt, jemanden wirklich herauszufordern. Nicht nur zu plänkeln. Und um ehrlich zu sein hat mich die Vorstellung, dass du mit Schnappatem fast vom Stuhl gefallen wärst, ziemlich amüsiert. Nicht belustigt in einem distanzierenden Sinne. Sondern liebevoll erfreut angesichts der Bedeutung, die meine Worte in dir zu entfalten vermögen. Blutdruck gegen Blutdruck sozusagen. Also. Ich versuche mich an einer Antwort. Die Sache mit der AfD.
Diese Partei beschäftigt mich nun seit einer Weile. Den Beginn meines Interesses kann ich an einem Ereignis vor ca. 6 Jahren festmachen. Es war der Tag, an welchem mein langjähriger Gynäkologe mir am Frühstückstisch aus der Zeitung entgegenlächelte. Als AfD-Kandidat für die damals anstehenden Wahlen. Ich war nicht wirklich überrascht. Während er der medizinischen Hauptuntersuchung immer mit angemessener Sachlichkeit nachgegangen war, hatte er mich über die Jahre sukzessive in seine Gedankenwelt eingeweiht. Ich war dadurch irgendwie vertraut mit seinem Denken. Er war dabei offensichtlich stillschweigend von meiner Zustimmung ausgegangen, obwohl ich mich nie geäußert habe. Zu seinen etwas verstaubten Ausführungen zur Bedeutung der monogamen Einehe mit klarer Rollenverteilung beispielsweise. Der Verteilungsungerechtigkeit in unserem linksliberalen System, in welchem er als Frauenarzt in der untersten Liga rangiere. Oder seiner Ansicht zu den Verfehlungen der Bildungspolitik unseres Landes. Vielleicht ging es gar nicht um stillschweigende Zustimmung, sondern um den gesuchten Widerspruch? Frage ich mich jetzt. Der Anschluss an die AfD schien mir jedenfalls damals irgendwie total logisch. Und ich hatte endlich eine Gelegenheit gefunden, das Arzt-Patientinnen-Verhältnis der zurückliegenden Jahre mit gutem Grund aufzulösen. Es war immer schon ein eher pragmatisches Verhältnis gewesen. Also käme mir nun sein in Erscheinung tretender politischer Rechtsruck gerade recht. Auch wenn ich mich im Freundeskreis natürlich lauthals empört habe. Über mein Unverständnis darüber, dass ein studierter Mensch eine solche Dummbeutelpolitik an vorderster Front zu unterstützen bereit war. Und dann auch noch MEIN Frauenarzt. Da musste ich mich doch gleich einmal distanzieren. Und zwar klar und deutlich. Nicht, dass das auf mich zurückfällt.
Heute frage ich mich. Warum eigentlich diese Empörung? Seine gynäkologische Nachfolgerin ist nicht weniger pragmatisch. Keine Ahnung, was ihre politische Gesinnung ist. Sie ist bezüglich der Äußerung ihrer Ansichten deutlich zurückhaltender. Aber ob sie fachlich deswegen besser ist? Beziehungsweise er schlechter? Schwer zu beurteilen. Mittlerweile beurteile ich dahingegen meine damalige Schnellschussreaktion als wenig sachliche, etwas voreilige Handlung unter dem Deckmantel der political correctness. Als Statement für mein soziales Bezugssystem sozusagen. In welchem man natürlich nicht undifferenziert denkt. Schon gar nicht undifferenziert rechts. Möglichst auch nicht konservativ. Oder sonst irgendwie rückständig anmutend. Das ist für mich gar nicht immer so leicht. Ich entdecke nämlich seit Jahren mehr und mehr konservative Seiten in mir. Die aufschreien, wenn wieder irgendwelche Neuerungen anstehen. Die dafür einstehen, das Althergekommene, das Vertraute zu bewahren. Die sich verweigern auf ganzer Linie. Voll dagegen sind. Zum Beispiel gegen voreilige Videokonferenzen in psychotherapeutischem/supervisorischem Kontext, wenn keine Not(wendigkeit) besteht, die mir einsichtig wäre (um mal mit einem harmlosen Beispiel anzufangen). Oder gegen zu frühe und flächendeckende Kleinkindbetreuung in Kitas mit schlechtem Schlüssel und nicht ausreichend qualifiziertem Personal. Und ich arbeite wirklich gern und hätte nicht länger als 12 Monate zuhause bleiben wollen. Aber dieser Eifer mancher Parteien, sich die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf Kosten der Kinder auf die Fahnen zu schreiben, befremdet mich ziemlich. Da dies meiner Ansicht nach im Effekt die Emanzipationsbewegung in der Kleinfamilie eher verhindert als unterstützt. Aber da ist eh wenig Diskussionsspielraum wie mir scheint. Gut, die Ehe könnte man von mir aus abschaffen. Oder zumindest für alle ab 18 Jahren ermöglichen. Wer auch immer wen und wieviele da heiraten will. Das ist mir relativ schnuppe, solange Menschen gegenseitig füreinander Verantwortung übernehmen. Warum die Schwulen neuerdings heiraten wollen, ist mir sowieso nur bedingt einsichtig – als hätte die politische Festschreibung einer partnerschaftlichen Beziehung auch nur irgendetwas mit der Liebe zu tun. Oder mit Gleichstellung. Oder gar Freiheit. Okay, wenn es um die Pflicht ginge, sich zu kümmern – auch über die reine anfängliche Lust hinaus. Die ja eh spätestens nach einigen Jahren abklingt. Aber brauche ich dafür den Staat? Gott schiene mir da noch logischer. Aber wie gesagt. Ich bin da ja auch etwas konservativ. Was fällt mir noch ein? Flugreisen. Könnte man abschaffen. Oder auf fünf Reisen pro Leben begrenzen. Das müsste dann beantragt werden. Bei wem weiß ich noch nicht. Aber vielleicht gemessen am bisherigen ökologischen Fußabdruck (heißt das noch so?). Da wäre ich total für staatliche Regulation. Überhaupt hätte ich viel übrig für einige Regulierungen. Wobei. Wenn ich es so recht bedenke. Das öffnet ja nur wieder Tür und Tor für weitere Unsinnigkeiten. Corona führt uns da so einiges vor Augen, wenn man hinguckt. Menschen in Angst sind bereit, alles zu akzeptieren. Ich auch. Aber was, wenn ich gar keine Angst hätte vor dem, was den meisten Anderen Angst macht? Nein. Doch keine staatlichen Regulierungen. Nicht in einem Staat, in dem die AfD mittlerweile so stark geworden ist. Ich glaube leider, dass, wenn die schlimmste Corona-Angst vorbei ist, der Rechtspopulismus hierzulande neuen Aufschwung erleben wird. Zu viele meiner Freunde und Bekannten haben sich gefreut, dass man von der AfD nichts mehr hört derzeit. Ich halte diese gemeinhin verächtlich betrachtete AfD aber für eine wichtige Gruppierung. Die es verdammt noch mal ernst zu nehmen gilt. Wider aller spontanen Verachtung des parlamentarischen und Mediengepöbels, das zugegebenermaßen oft nur schwer zu ertragen ist. Jeglichen Feingeist das Fürchten lehrt. Aber auch wenn es noch so absurd zu sein scheint, was sie mit Worten ausdrücken. Es geht darum, dahinter zu schauen. Und da haben sie durchaus etwas zu sagen.
Warum ich das glaube? Weil demokratische Politik nichts Anderes für mich ist als das, was ich unter Psychotherapie verstehe. Und ich mich auf diesem Gebiet auskenne. Und nicht nur eine starke Meinung besetze. Was ein zentraler Unterschied ist in diesem Diskurs.
Einen psychotherapeutischen Prozess in Gang zu bringen ist für mich ein zutiefst demokratisches Handwerk. Zwei Menschen. Zwei Positionen. Meist widersprüchlich, teils unvereinbar. Die leitende Idee dahinter für mich ist, einen fruchtbaren Prozess anzuregen, bei dem etwas wachsen darf. Im besten Fall auf beiden Seiten. Auch wenn es vordergründig um den Patienten geht, kann es meiner Ansicht nach gar nicht anders sein, als dass auch ich dabei gewinne. Alles andere käme mir komisch vor. Es ist wie ein guter Kompromiss, der angestrebt wird. Weder kann es um die Dominanz des einen über den anderen gehen noch um den scheinbar selbstlosen Verzicht auf jegliche eigene Ansprüche. Ausgewogenheit im Sinne der Entwicklung also. Kannst du mir folgen? Ich weiß, ihr Ärzte seid da ein wenig anders. Gemäß eurer medizinisch-hierarchischen Sozialisation. Und die ist schon sehr verschieden. Scheint mir zumindest. Eine Wissenschaft, zu der es gehört, dass jegliche Theorie mindestens eine Gegentheorie hat, die genauso logisch und sinnvoll ist, so dass einem immer die Wahl bleibt, an welche man sein Herz hängen mag, ist doch etwas grundlegend Anderes als diese erlernte Sicherheit. Dieses Vertrauen auf das Evidenzbasierte. Das Wahre. Das, was ist. Für mich IST nichts. Für mich ist höchstens alles in Bewegung. In Beziehung. Und relativ gesehen zum eigenen Standpunkt. Den ich wechseln kann. Und damit die Wirklichkeitswahrnehmung verändern. Der vielfach ausprobierte Perspektivwechsel ist das wichtigste Handwerkszeug, das ich für die Ausübung meines Berufs besitze. Es ist Politik an der Basis des Menschseins sozusagen. Dabei weiß ich nicht mehr als mein Patient oder meine Patientin. Sie kennen ihr Leiden seit Jahren. Wie es sich anfühlt. Wie es sich nicht anfühlt. Wo es im Körper sitzt. Wann es am meisten schmerzt. Sie haben Worte dafür. Oder andere Wege, es zu verdeutlichen. Meistens sind es keine Worte, sondern ebendiese anderen Kanäle. Ich wiederum muss meine offenhalten, um zu verstehen. Nachfragen zu können, nachzuspüren, aufzuspüren. Es ist ein gemeinsames Erforschen von Abgründen, Engpässen, Sackgassen. Aber auch weite Felder, ungegangene Pfade, wunderschöne Plätze. Die Seelen der Menschen sind wunderschön. Ein Naturerlebnis sondergleichen. Und schauderhaft zugleich. Und ehrlich: natürlich will ich keine Operation an meinem offenen Herzen von einem Zweifler durchgeführt bekommen. Ich habe sehr viel übrig für Menschen, die sich ihrer Sache ganz und gar sicher sind! Drei Ausrufezeichen. Im besten Fall hoffe ich natürlich, solch einen Eingriff nie zu benötigen. Aber Wünsche dürfen ja fromm sein, habe ich gehört.
Die AfD also. Sie besteht aus Menschen. Menschen, die unzufrieden sind. Unzufrieden mit sich, ihrem Leben. Die sich vielleicht benachteiligt fühlen oder ungerecht behandelt. Die etwas verändern möchten. Die auf diesem Weg der Veränderung anderen ihr Leid ankreiden. Das können wir übrigens ja alle besonders gut. Ist ein wichtiges Zwischenstadium im psychotherapeutischen Prozess (und in der kindlichen Entwicklung). Wer niemandem etwas anzukreiden vermag, der hat sich irgendwie schon abgekoppelt vom menschlichen Miteinander. Da habe ich meist sehr sehr schlechte Karten dahingehend, den heilsamen Motor anzuschmeißen. Wie lässt sich aber mit Menschen reden, die unzufrieden sind? Andere beschuldigen? Dabei unlogische Argumente vorbringen. Den eigenen Hass so in Wallung bringen?
Ich zitiere dich aus deinem Kommentar zu meinem Beitrag „Verhältnismäßigkeit“. „Neben der Emotionalität, die hier eine bedeutende Rolle spielt, weil sie spürbar und unmittelbar ist, sollte meines Erachtens aber auch der wenig greifbaren und für die meisten Menschen abstrakten, rationalen Komponente gleichberechtigt Raum gegeben werden. So ist die Frage der Verhältnismäßigkeit eine sehr wichtige. Um sich einer Antwort anzunähern braucht es aber auch die Kenntnis der Wahrscheinlichkeit.“ Ich übersetze, was ich hier höre: „Okay Sabine, Du fühlst. Klar, es ist traurig, dass die Oma deiner Babysitterin gestorben ist. Aber komm. Das ist ein Einzelfall. Hier geht es um eine viel größere Sache. Eine Pandemie. Und da braucht es halt ein bisschen mehr als nur diese Einzelgefühle. Hier müssen vernünftige Entscheidungen her. Evidenzbasiert (ICH HASSE DIESES WORT!). Zwar für die meisten Menschen nicht nachvollziehbar, denn Emotionen sind halt unmittelbar. Aber auch irgendwie ein bisschen dumm. Zumindest wenn man sich nicht von ihnen distanzieren kann. So wie du in deinem Text. Es geht ums Denken. Schon fühlen, aber auch denken. Rational sein. Vernünftig. Und hier machst du wirklich ein zu großes Fass auf.“
Ja. Es ist ein großes Fass. Das mit den Gefühlen. Und ja. Gefühle sind unzuverlässig. Manipulierbar. Nicht vertrauenswürdig. Und können nicht das Denken ersetzen. Aber sie müssen es unbedingt ergänzen. Mir geht es hier um Ausgewogenheit. Und ich werfe dir vor, dass deine Rationalität zu viel Gewicht bekommt in deiner Argumentation. Obwohl du ein zum Fühlen begabter Mensch bist. Du verleugnest einen bedeutsamen Teil deines Selbst. Vielleicht den hässlichen Teil des Ganzen. Die AfD führt uns diese Hässlichkeit vor Augen. Und hat damit eine enorm wichtige Funktion. Wir sollten dieser Hässlichkeit ins Auge sehen. Bei uns selbst. Und bei der AfD. Und mit ihr sprechen. Nicht wegschauen. Nicht ignorieren. Nicht verachten. Sondern hinschauen. Sprechen. Interesse entwickeln. Einen demokratischen Prozess initiieren. Im besten Falle heilsam.