Hören mit dem dritten Ohr

Assoziative Reflexionen zur inneren und äußeren Welt

Es ist Anfang August. Morgen fahre ich mit der Familie für eine Woche in den Urlaub. Nachdem Italien in den Pfingstferien abgeriegelt war. Verseuchtes Gebiet. Nun also spontan Frankreich. Ein kleiner vorbeihuschender Gedanke daran, dass wir in einer Woche Rückkehrer aus einem Risikogebiet sein und in Isolationshaft müssen könnten. Denn als etwas Anderes kann ich Quarantäne als Familie mit bewegungsdrängenden Kindern nicht phantasieren. Beim besten Willen nicht. Naja. Wird schon gut gehen.

Ich weiß nicht mehr, wie ich zu Corona stehe. Ich muss es mir erschließen. Heute bei der Arbeit habe ich zum Abschied meinen Kollegen umarmt, den ich erst im September wiedersehen werde (wenn alles gut geht). Darf man das? Auch er hat kleine Kinder und ist sehr erleichtert, dass seit Anfang Juli die Kindergärten und Schulen wieder zugänglich sind. Zudem hat er wenig Berührungsängste. Noch keine 40, gesund, ohne bekannte Vorerkrankungen. Letzte Woche habe ich den Mann einer Freundin gesprochen. Rettungssanitäter, aktuell in der Anästhesie eines sogenannten Corona-Krankenhauses tätig. Die schweren Fälle waren bei ihnen nicht die Alten, sondern Männer um die Mitte 40. Die tagelang beatmet werden mussten. Folgeschäden noch ungewiss.

Vor zwei Wochen hatte ich ein Gespräch mit einer psychoanalytischen Kollegin, die ich für ihren herzlichen Verstand sehr schätze. Sie zeigte sich von Corona deutlich beeindruckt. Im Sinne eigener vermutlich angemessener Befürchtungen, aber auch bezüglich der Wirkungen auf ihre Patienten. Ich habe mich mal wieder gefragt, was mir eigentlich entgeht. Was ich – nach der ersten Aufruhr – nicht mehr sehen kann. Sehen will? Sie ist Mitte 60 und hat keine Kinder. Sollen Kinder wirklich das Kriterium sein, an dem sich die Geister scheiden? Sie meinte JA, als ich von einem ebenso geschätzen kinderlosen Freund erzählte, der ebenfalls einige Wochen ziemlich isoliert und sehr ängstlich war.

Ein Kollege beklagte diese Woche seine Einsamkeit durch Corona. Die Unmöglichkeit, sich unbefangen zu umarmen. Sich näher zu kommen. Nicht nur im engsten Freundes- und Familienkreis, sondern ganz allgemein. Mmhh. Ich verstehe ihn glaube ich nicht. Dieses Bedürfnis, Menschen, die mir nicht auch seelisch sehr nahe sind, zu umarmen, habe ich nicht. Oder vielleicht weiß ich nicht, was er meint. Meine Familie, sprich meine Eltern umarme ich schon seit spätestens Mai wieder. Sie haben gewisse Risikofaktoren und sind auch nicht mehr die jüngsten. Doch sie besitzen etwas von unschätzbarem Wert. Gottvertrauen. Dabei sind sie keineswegs dumm. Sie kennen die Risiken. Und gerade meine Mutter ist wahrlich keine furchtlose Person. Schon gar nicht hinsichtlich körperbezogener Ängste. Aber mit Blick auf Ansteckung durch Corona ist sie erstaunlich angstbefreit. „Wenn ich es bekomme, dann weiß ich wenigstens, dass es von Euch kommt!“ Ich musste fast weinen, als sie das sagte. Und meine Mutter rührt mich wahrlich nicht oft zu Tränen. Viel zu schamvoll die Nähe, die dadurch entstehen könnte. Und ich möchte noch einmal sagen: meine Mutter ist nicht dumm. Und dahingehend auch nicht naiv. Und doch ist der Kontakt zu ihren Enkelkindern und Kindern für sie essentiell. Sie könnte es nicht aushalten, die Entwicklung ihrer kleinen Enkeltochter zu verpassen, die in diesem Alter so schnell voranschreitet. Wir sind ein Teil ihres Lebenssinns. Ich will das nicht idealisieren oder als das Richtige bewerten. Es ist halt so.

Ob ich so handeln würde als Großmutter. Keine Ahnung. Die Eltern meines Partners (10 Jahre älter als meine, aber ob das der ausschlaggebende Punkt ist, in mancherlei Hinsicht sind sie fitter) haben wir dahingehend seit Ende Februar nicht mehr gesehen. Jetzt ist ein Treffen in Planung für Anfang September. Aber sie haben Angst. Angst um ihr Leben. Angst vor der Nähe zu den Kindern. Zu uns, die so mitten im Leben mit so vielfältigen Ansteckungsmöglichkeiten stehen. Ob das Corona macht? Ich weiß es nicht. Gestern haben wir mit Freunden gescherzt, ob wir ihnen wohl einen Artikel aus der New York Times zusenden sollten zur Vorbereitung: „How to Hug During a Pandemic“. Mit abgewandtem Gesicht. Mit Mundschutz. Von hinten. Empfehlungen um den notwendigen menschlichen Körperkontakt wieder zu ermöglichen, dessen Fehlen ansonsten zu erhöhtem Stress führen kann. Führt. Es war nur halb scherzhaft. Eigentlich hatten wir alle das Grausen bei der Vorstellung von reglementiertem Körperkontakt. Wollten uns so eine Welt gar nicht weiter vorstellen. Haben schnell das Thema gewechselt. Dahin, dass wir uns zumindest wieder angenähert haben. Mit diesen besagten Freunden gab es auch eine Phase des strikten „Social Distancing“ – und einen damit verbundenen Konflikt. Gott sei Dank konnten wir sprechen. Hatten wir Vertrauen darin, die unterschiedlichen Angstlinien benennen zu können und Akzeptanz beim Gegenüber zu finden. Wenn auch vielleicht kein tieferes Verstehen. Oder erst mit Verzögerung. Es gab keine Spaltung. Das war erleichternd zu spüren und ist es noch.

In der Psychosomatischen Klinik, in welcher ich arbeite, halten wir seit Monaten nun vorschriftsgemäß Abstände ein. Tragen Mundschutz in engen Passagen, im öffentlichen Raum. Die meisten von uns haben die notwendigen und vernünftigen Regeln verinnerlicht. Wir sind strenger als es außerhalb des Krankenhauses erforderlich ist. Aber wir sprechen viel zu wenig darüber, was das mit uns und dem Selbstverständnis unserer Arbeit, die in ihren Grundfesten eine Beziehungsarbeit ist, macht.

Letzte Woche habe ich Tocotronic wiederentdeckt. Was man so findet auf der Suche nach Trost und Verstehen.

Dritte Strophe:

Pure Vernunft darf niemals siegen, wir brauchen dringend neue Lügen, die unsere Schönheit uns erhalten, uns aber tief im Inneren spalten, viel mehr noch, die uns fragmentieren, und danach zärtlich uns berühren, und uns hinein ins Dunkel führen, die sich unserem Willen fügen, und uns wie weiche Zäune biegen, pure Vernunft darf niemals siegen.

Mich interessiert die Spaltung und die Fragmentierung, die Corona (sichtbar) macht, sehr. Wo kann noch oder wieder gesprochen werden? Und wo sind die Menschen verstummt? Wo lassen wir etwas einfach geschehen. Gewöhnen uns an Regeln. Ausnahmezustände. Verordnungen. Ängste. Die vorgezogene Todesdrohung sozusagen. Was sind wir bereit, als neue Normalität einfach hinzunehmen? Ohne uns damit auseinanderzusetzen? Wieviel Angst davor, dass Spaltungen und Fragmentierungen sichtbar werden könnten, hält uns davon ab, unsere Erfahrungen zu teilen? Unsere unterschiedlichen Sichtweisen auszutauschen? Unsere vielfältigen Gefühle ins Spiel zu bringen. Die Angst. Die Wut. Die Ohnmacht. Und so weiter. Ohne Angst vor Bewertung. Entwertung. Verurteilung. Beschämung.

Alles so riesengroße Substantive.

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