Heute ist mir diese Pandemie mal wieder zu viel geworden. Während ich mich nach der ersten Erregtheit im Frühjahr relativ schnell beruhigt hatte und im weiteren Verlauf des Jahres ein doch weitgehend normales Leben geführt habe, befinde ich mich aktuell in einem erneuten Zustand der diffusen Anspannung. Druck lastet spürbar auf meiner Brust. Das kenne ich noch aus den Monaten März bis Mai. Immer, wenn ich mich im öffentlichen Raum bewegte, hatte mich damals dieses Engegefühl erfasst. Ich habe es als diffusen Ausdruck von Angst verstanden. Der eigenen, aber auch der Anderen. Einiges hatte mich im Frühjahr beschäftigt mit Blick auf die gesellschaftliche Krisensituation. Teilweise habe ich hier darüber geschrieben. Diese beunruhigend unsichere Atmosphäre der Bedrohlichkeit hat definitiv einiges in Bewegung versetzt.
Ich habe mich dann – wie so viele – schnell an die neue Situation gewöhnt. Die Abstandsregeln, welche ich zu Beginn zumindest im vertrauten Kontext innerlich noch sabotiert habe, erschienen mir zunehmend als sehr sehr kleines Übel. In der größeren Öffentlichkeit genieße ich den gewonnenen Raum sogar. Und auch sonst eröffnet die verordnete Distanz zuweilen einen geschärften Blick. Eine Maske zu tragen in bestimmten Situationen ist für mich ebenfalls weit weniger schlimm als im Vorfeld phantasiert. Dass sie jetzt halt zu den Alltagsutensilien gehört, wurde mir bewusst, als ich bei einem Restaurantbesuch zur Toilette musste und automatisch in meiner Handtasche zu kramen begann, kurz vergaß, warum ich das wohl tat und dann realisierte, dass der Griff zur Maske offensichtlich schon gut eingeübt ist. Dass ich seit letzten Dezember nicht mehr krank war, ist ein begrüßenswerter Nebeneffekt der Maßnahme. Sogar die Kinder sind weitgehend gesund geblieben dieses Jahr – und das grenzt wirklich an ein Wunder. Ich hatte wohl weniger Krankheitstage als je zuvor. Ich gehöre auch nicht zu der Sorte Eltern, welche die psychische Entwicklung ihrer Kinder bedroht sieht durch Abstandsregeln und Masken. Vielmehr ärgere ich mich über diverse Elterninitiativen, die eine Bewegung der Nähe und des Kontakts fordern, weil sie um die Normalität ihrer Kinder fürchten. Ich könnte einiges darauf verwetten, dass sich in diesen Gruppierungen nicht unbedingt diejenigen sammeln, denen ich spontan ein für mich stimmiges Beziehungsverhalten gegenüber ihren Kindern attestieren würde. Ich mag mich täuschen. Aber Corona bietet definitv neue Gesprächsmöglichkeiten. Erst letztens – bei Tisch ging es wieder mal um das Virus – forderte meine 3jährige Tochter: „Ich will nicht übers Sterben sprechen!“ Warum nicht übers Sterben sprechen mit den Kindern? Die Großeltern gehen auf die 80 zu. Da wäre das eine gute Gelegenheit. Auch ohne Corona. Am nächsten Tag grölte sie auf der Straße: „Ich habe Corona. Und ich habe heute alle Kinder im Kindergarten angesteckt!“ Das wiederum hatte etwas ungemein Lustvolles. Wie mein 9jähriger, der auf dem Höhepunkt seiner Ekeligkeit anzukommen scheint, letztens im Aufzug meinte, nachdem er gepupst hatte: „Ich wünschte, es gäbe noch 10 Stockwerke bis in den Keller. Dann müsstest Du mich noch länger riechen!“ In den Anderen eindringen zu „wollen“ und sich dort breit zu machen, scheint irgendwie ein Bedürfnis zu sein, das da zur Äußerung kam. Natürlich muss es kein gesundheitsbedrohliches Virus sein, das den Anfang dahingehend macht. Wobei die Grenzen zu überschreiten eben auch auf anderen Ebenen nicht immer sauber, geruchlos, gesundheitsfördernd oder gar harmonisch verläuft. Aber auch nicht gleich zur Vernichtung führt. Es gibt ja Gott sei Dank so etwas wie die Möglichkeit, sich auseinanderzusetzen mit fremden Partikeln, die sich in einem festsetzen, wo man doch gar nicht danach gefragt hatte. Sie zu erkennen, ihre Wirkung zu verstehen und sie bestenfalls zu integrieren, ist allerdings oft harte Arbeit. Es geht darum, Worte für das zu finden, was über das Kontrollierbare, das Berechenbare hinausgeht. Zu verstehen, dass wir eben keine abgeschlossenen körperlichen und psychischen Entitäten sind, die selbst darüber bestimmen, was, wann und von wem eindringen darf und was nicht.
Ich hasse es, mich nicht selbstbestimmt fühlen zu können. Überhaupt hasse ich es zuweilen, nicht bestimmen zu können. Und ringe dennoch darum, eine Position zu finden.
Corona also mal wieder als Ausgangspunkt neuer Überlegungen. Nachdem schon mein diesjähriger Geburtstag dem November-Lockdown anheimfiel und ich mir die Frage stellen muss, ob ich hier schreiben dürfte, mit Freunden gefeiert zu haben – selbst wenn ich es nicht hätte – weil sonst ein Regelverstoß hier stünde, was mir gehässige Kommentare einbringen könnte, zumindest aber mein eigenes Über-Ich unter öffentlich empfundenen Bewertungsdruck brächte und damit meine dürftige Nichtangepasstheit zum Vorschein bringen…hatte ich am Tag X der vergangenen Woche nun auch noch Kontakt zu einer infizierten Person. (Allein wie das klingt.) Und befinde mich in frei gewählter Selbstisolation. Vermutlich bin ich nur nicht in offizieller Quarantäne, weil das Gesundheitsamt heillos überfordert ist und selbst meine wiederholten Versuche, mit mehreren Telefonapparaten gleichzeitig einen Ansprechpartner heute zu ergattern, erfolglos blieben. Der Versuch, in einer Hotline jemanden zu erreichen, bringt mich früher oder später immer an meine psychischen Grenzen, da mit der Anzahl der Anrufe und Warteminuten die innere Anspruchshaltung steigt, jetzt aber unbedingt mit jemandem sprechen zu müssen, ja ich mir quasi das Recht duldsam erkämpft habe. Die freundliche Stimme, die mich wiederholend nach 6 Minuten und 37 Sekunden aus der Leitung geschmissen hat, kannte keine Gnade. Am Ende hat mich nur eine CD zur hypnotischen Tranceinduktion, nach deren Anhören ich in befreienden Tiefschlaf gefallen bin, wieder regeneriert. Angemessene Frage: Warum habe ich mir das angetan? Anstatt ruhig und zufrieden in meinem Kämmerlein zu warten, den geschenkten freien Tag bei bester Gesundheit zu nutzen, um abzuwarten bis die Behörde aktiv wird? Tja. Ich bin „medizinisches Personal in der Akutversorgung“. Und es gibt tatsächlich noch andere Patienten als coronabetroffene, die auch behandelt werden in aktuellen Zeiten. Wegen depressiven Zuständen. Ängsten. Destruktiven Angriffen auf den eigenen Körper. Suizidneigung. Und unter Personalmangel steigt der Druck auf allen Ebenen. Das, was in „gewöhnlichen“ Zeiten als das Rationale angesehen wird, greift nicht mehr. Es braucht neue Entscheidungswege. Und jeder hat da seine eigenen Kriterien im Angesicht von Gesundheitsängsten. Das ist eine wichtige Erkenntnis der letzten Monate. Und da ist auch nicht unbedingt gut zu sprechen. Selbst, wenn man sich ansonsten nahe fühlt, ähnliche Sichtweisen teilt. Das bedrohte Leben setzt eine neue Grenze, die ausgehandelt werden muss.
Doch was genau muss ich gerade mit mir selbst aushandeln? Von einem Standpunkt aus bin ich derzeit eine Risikoperson. Ich hatte Kontakt zu einer „Verpesteten“. So hat es eine Freundin kürzlich genannt, als sie selbst Corona hatte und die Menschen selbst nach 14 Tagen Quarantäne noch einen intuitiven Schritt rückwärts machten beim ersten Wiedersehen. Ich bin also eine Gefahr, die das Leben anderer bedrohen könnte. Ich könnte eine Superspreaderin sein. „Hättest Du wohl gerne!“, meinte gestern eine vertraute Person zu mir. Ja, vielleicht. Auf anderen Ebenen bin ich gerne ansteckend. Mit Fröhlichkeit, Unbefangenheit, Offenheit, Ehrlichkeit, Lust und Tollerei. Aber Krankheit? Siechtum? Atemnöte, Beklemmungsgefühle, Niederstimmung, am Ende sogar Einsamkeit und Isolation? Damit will ich doch eigentlich niemanden behelligen. Das behalte ich dann doch lieber für mich. Am besten ziehe ich es mir selbst erst gar nicht zu.
Die Sachlage wäre ja so einfach. Wenn ich das Gesundheitsamt nur erreichen könnte. Dann würden die mir sagen, was zu tun sei. Welcher Risikogruppe ich durch meine Art des Kontakts angehöre. Wie meine Gefahr eingeschätzt wird. Ob ich mich testen lassen soll oder einfach nur abwarten. Ob und wie ich mich isolieren soll. Sie würden mich täglich anrufen, mir ein sicherer Begleiter sein. Ich könnte mich über die absurden Regeln aufregen, ihre Einschätzung in Frage stellen, meine ganze Ungeduld im Angesicht dessen, zum Stillhalten gezwungen zu werden, an der behördlichen Obrigkeit auslassen. Tja. Diese quasi-anonyme Obrigkeit ist nun aber abwesend. Gut, es gibt andere Obrigkeiten. Mein Chef, der natürlich großes Interesse daran hat, dass ich wieder zum Arbeiten komme wegen besagten Personalmangels, bietet sich an. Gewöhnlich vertraue ich ihm und seiner Einschätzung. Und wenn er mir nun sagen würde, ich könne aus seiner Sicht unbedenklich zum Arbeiten kommen, sollte halt Maske tragen: würde ich dem Folge leisten? Wäre das vernünftig? Ich lese die RKI-Richtlinien zum x-ten Mal. Ja, man könnte es so auslegen. Aber da ist ja noch das Gesundheitsamt. Was, wenn die anrufen, während ich nicht zuhause bin, weil ich arbeite? Um mir zu sagen, dass ich 14 Tage in Quarantäne sein muss zum gesellschaftlichen Wohl? Aus politischer Verantwortung! Ich fühle mich völlig gesund. Aber ich KÖNNTE ja krank sein. Eine Überträgerin. Und wenn ich jetzt arbeiten ginge und dann alle ansteckte? Was dann? Wer wäre dann verantwortlich? Würde ich sagen „Mein Chef hat aber gesagt…“ Nein, das könnte ich am allerwenigsten sagen. Schließlich habe ich mich über Wochen und Monate und Jahre mühsam aus der Position des kleinen Mädchens, das nur so tut, als könnte es selbst entscheiden, in Wirklichkeit aber immer nur Orientierung an der idealisierten Autorität gesucht hat, herausgearbeitet. Es wäre zu peinlich, nun im Angesicht der ersten Gelegenheit, die eigene Mündigkeit zu erproben, auf diese Stufe zurückzufallen.
Ich neige nicht zu übertriebenen Schuldgefühlen, wenn ich mit meinem Handeln im Reinen bin. Es meiner Ansicht nach „richtig“ mache. Aber mich lässt das Gefühl nicht los, dass es derzeit nichts zum Richtigmachen gibt. Oder das Richtige könnte auch immer das Falsche zugleich sein. Und wer entscheidet das? Wirklich ich? Nein. So weit kommt es noch. Das hier ist größer als ICH. Eine Pandemie. Da will ich gar nicht mehr selbst bestimmten. Am Ende bin ich doch infiziert, auch wenn ich gut vorgesorgt hatte in der Situation? Und mich bisher gesund fühle. Außer eben dieser Druck auf der Brust. Könnten ja auch erste Anzeichen von Atemnot sein. Ich spüre keine Angst vor einer Infektion. Ich werde dennoch meine Eltern, die ansonsten regelmäßigen Kontakt zu den Enkelkindern wünschen, die nächsten zehn Tage nicht treffen. Und auch andere Menschen, besonders die gefährdeten nicht. Ich werde FFP2-Masken tragen bis zum Ende der Inkubationszeit. Aber es kann sein, dass ich aus medizinischer Sicht ab morgen als relativ gefahrlos betrachtet werde und von daher bald wieder zum Einsatz komme. Früher als dies für andere Menschen mit dem Ansteckungsrisiko, das ich hatte, gilt. Ich werde vermutlich getestet und werde zusätzlich Maske tragen. Ich kann das vertreten. Sonst würde ich mich nicht darauf einlassen. Vor allem, weil ich den Menschen, die das als risikoarm einschätzen, vertraue. Man mag mich aus anderer Ecke für naiv halten. Ich kann nicht anders als so handeln. Auf der Basis von Vertrauen und Wahrscheinlichkeiten. Aber da ist dieser Druck auf der Brust. Ich würde es lieber ganz genau richtig machen.