Vor zwei Tagen hat mich abends ein Fieberschub gepackt. Das Frösteln, das ich erst als Reaktion auf die neu auftauchende winterliche Kälte interpretierte, wollte einfach nicht weggehen. Auch die heiße Dusche sowie die Wärmflasche unter der Daunendecke zeigten keine Wirkung. Mein Körper war offenbar dabei, einen Temperaturanstieg anzuvisieren. Ich war seit 11 Monaten nicht mehr ernstlich krank gewesen, hatte also verständlicherweise Mühe, dies als ebendiesen Zustand sofort zu erkennen. Die folgende Nacht war grässlich. Ich erinnerte mich schlagartig wieder daran, wie anstrengend Kranksein ist. Wie sehr man plötzlich nur noch auf Vorgänge im und um den Körper zurückgeworfen ist. Jegliche sich transzendierenden Gedanken auf einmal obsolet werden. Es geht nur um den elenden körperlichen Zustand. Wenn das nur nicht schlimmer wird. Bitte lass‘ es besser werden. Es soll vorbeigehen. Zumindest wäre schön, wenn dieses Frieren aufhören könnte fürs Erste. Bis zum Morgen waren noch Kopf- und Gliederschmerzen hinzugekommen. Und eine allgemeine Schwäche, die mich wie auf rohen Eiern durch die Wohnung wanken ließ. Dann dieser modrige Eigengeruch der kranken Ausdünstungen. Kaum vorstellbar, dass noch irgendjemand gerne in meiner Nähe sein wollen würde.
Um halb 8 hatte ich bereits das Krankenhaus informiert, dass ich heute nicht zur Arbeit kommen würde. Dies wäre bis vor einigen Monaten mein einziger Schritt gewesen, bevor ich mich zurück in meine Kissen hätte sinken lassen, um mich gesund zu schlafen. Eine offizielle Krankmeldung hatte es immer erst ab Tag 3 gebraucht, so dass auch der Gang zum Arzt für einen Moment hätte warten können. Zumindest bis ich dem eigenen Körper wieder zutrauen würde, die 500m zur Praxis ohne Weiteres zu bewältigen. Nun aber leben wir in Zeiten von Corona. Und da kommen dem Vorgang des Erkrankens ganz neue Bedeutungen und Handlungsnotwendigkeiten zu.
Könnte ich denn Corona haben? Die erste Frage, mit der ich mich beschäftigen muss. Auch wenn alles auf einen stinknormalen Infekt hindeutet. Ohne Husten. Ohne Fieber, das den kritischen Wert überschreitet. Ohne Geschmacksverluste. Sogar ganz ohne Schnupfen. Aber da war diese Begegnung mit der Kollegin vor 6 Tagen, die zwei Tage später coronapositiv getestet worden war. Der Kontakt war vergleichbar nah gewesen wie bereits derjenige vor einigen Wochen zu einer Patientin, welche ebenfalls virusbelastet war. Ich habe hier über die Aufregung geschrieben, welche das in mir ausgelöst hatte auf verschiedenen Ebenen. Das Gesundheitsamt hatte dies übrigens im Nachhinein als unproblematischen und wenig infektiösen Kontakt eingeschätzt. Ob dies allerdings eine wirklichkeitsgetreue medizinische Einschätzung oder vielmehr Ausdruck bürokratischer Überforderung war, ist aus meiner Warte schlecht zu beurteilen. Wobei Wirklichkeitstreue ein Begriff ist, der in diesen Zeiten an sich neu debattiert werden kann. Aber bei meiner ersten Coronabegegnung hatte ich wenigstens gelüftet. Dieses Mal war der Raum zwar größer, aber auch niedriger, der Abstand weiter, aber dafür ohne Frischluftzufuhr während der Stunde Beisammensein. Die geteilten Kubikmeter also mit mehr (zu vielen?) Aerosolen belastet. Und zudem kommt mir diese Kollegin deutlich ansteckender vor als meine Patientin. Ich weiß, dass diese Idee Unsinn sein mag, haltlose Phantastereien aus meiner persönlichen Welt. Aber ich denke nun mal so. Und dabei finde ich das wahrgenommene Ansteckungspotential eben jener Frau keineswegs abschreckend. Eher Gegenteil. Aber Corona will ich nun doch nicht. Auch wenn es von ihr käme. Auf der anderen Seite wäre es vielleicht erträglicher, wenn Herkunft bekannt UND sympathisch. Es tut mir leid, dass es ihr so schlecht geht. Es ist übrigens das erste Mal, dass man von Kollegen weiß, an welchen Symptomen sie leiden, wenn sie krank sind, wie es ihnen geht. Viele Menschen fühlen und denken plötzlich mit. Es ist spürbar, dass wir eine zusammengehörige Gruppe sind. Als ich heute morgen angerufen habe, um meine Arbeitsunfähigkeit kundzutun, hatte ich erstmals in meinem Berufsleben kein gleichzeitig schlechtes Gewissen, dass jetzt Arbeit an meinen Kollegen hängenbleiben wird. Nein, ich bleibe ja zuhause, um sie zu schützen. Und zugegebenermaßen gefällt es mir, dass mein Krankenstand auf einmal von solch explizitem Interesse ist. Das macht es mir leichter, über mein Kranksein und die damit empfundenen Unannehmlichkeiten zu sprechen, ohne mich aufdringlich zu finden oder gar rechtfertigen zu müssen, warum ich überhaupt krank geworden sei. Das ist offenkundig natürlich mein ganz persönliches Thema mit Hilflosigkeiten. Vielleicht nicht NUR meins. Aber die aktuelle allgemeine Bewusstheit für die Bedeutung von Krankheit, Ansteckung, Kranksein, Schutz von und Solidarität gegenüber anderen, aber auch Interesse füreinander, die Corona fördert, hat zumindest für mich einige positive Aspekte, wie ich feststelle.
Muss ich mich denn nun überhaupt testen lassen? Auch mit dieser Entscheidung bin ich nicht alleine. Die ansonsten so vertraute Scham darüber, andere mit meinem Gesundheitszustand und den dahingehenden Unsicherheiten eventuell zu belästigen, hat sich offensichtlich verflüchtigt. Ich diskutiere die wohl angemessene Teststrategie mit der Chefsekretärin, dem Kollegen per WhatsApp und letztlich mit dem originär zuständigen Hausarzt. Trotz meiner eher untypischen Symptomatik entscheidet dieser aufgrund meines Kontaktpersonenstatus sowie meiner Kliniktätigkeit für Abstreichen. Alles geht ganz unkompliziert vonstatten. Er entschuldigt sich für den Würgereiz, den sein Rachengepfriemel bei mir auslöst. Alles gut. Ich gehe nach Hause zurück ins Bett. Und schlafe erst einmal.
Nächste Frage. Wen muss ich nun eigentlich informieren? Mit wem war ich zusammen? Muss ich überhaupt informieren? Ich tendiere ja dazu, den Ball flach zu halten, keine Panik zu verbreiten. Ein Freund schrieb mir allerdings dazu: „Ich würde keine Frage des Müssens daraus machen. Aber du hattest ja den Kontakt mit einer positiven Person und hast nun Symptome. Also ich würde es in dem Fall den Anderen überlassen, Verantwortung für ihr Risiko zu übernehmen.“ Ich informiere. Intuitiv hätte ich es wohl so gemacht, dass ich erst einmal stillschweigend das Testergebnis abgewartet hätte. Um eben keine unnötigen Sorgen zu verbreiten. Aber auch aus Angst, mich selbst zu wichtig zu nehmen. Schließlich muss ich nicht jeden wegen einer vermutlich geringen Ansteckungswahrscheinlichkeit bei nur etwaigem Vorliegen einer überhaupt kritischen Infektion mit meinem Kranksein belästigen. Ja, da wären wir wieder. Beim Umgang mit Schwäche. Und dabei, wie schwer es mitunter sein kann, sich damit zu zeigen. Und wie Corona plötzlich eine neue Variable einführt. Die Veröffentlichung von vormals privatem Leiden. Weil es von Interesse für die Allgemeinheit geworden ist, wer sich wo und wann mit was angesteckt hat. Dabei ist das ausgemachter Quatsch. Ansteckungsprozesse ereignen sich ja nicht erst seit dieser aktuellen Pandemie. Krankheiten gab es davor zumal in der Wintersaison auch zuhauf. Und selbst harmlose grippale Infekte, die fleißig herumgereicht wurden in Zeiten ohne AHA-L-Regeln haben die Arbeitsfähigkeit von Teams teilweise über Wochen schwer beeinträchtigt. Aber haben wir uns da so füreinander interessiert? Dafür, wie es jemandem ging, wenn er krank war? Gerade interessieren wir uns ja sogar für jemanden schon, bevor er überhaupt krank ist, wenn er nur Kontakt zu einer kranken Person hatte. Wir interessieren uns implizit für viel mehr als das konkrete Ansteckungsniveau. Wir interessieren uns dafür, wie jemand mit der darin liegenden Beängstigung umgeht. Was er oder sie mit der Angst macht. Ob sie ihn gar nicht berührt, nur streift, schwer trifft oder sogar krank macht. Lange bevor das Virus seine Wirkung zeigen kann. Ja, wir interessieren uns für ein ansonsten schmählich vernachlässigtes Alltagsgefühl: die Angst. Was zumindest ich einigermaßen ungewöhnlich finde. Und ich muss zugeben: ich mag das. Ich persönlich finde es nämlich sehr schwierig, meine (mitunter zahlreichen) Ängste zu äußern, wenn sich niemand dafür zu interessieren scheint. Ich kann dann schwer erkennen, ob die Verleugnung in mir selbst stattfindet oder mir von außen aufgetragen wird. Und letztlich lässt sich das ja nicht fein säuberlich trennen. Auch bezüglich emotionaler Inhalte halten sich Ansteckungsvorgänge einfach nicht an die Grenzen, die wir ihnen so gerne setzen würden. Und wer sich in dieser pandemischen Zeit vor was genau ängstigt, scheint mir so vielgestaltig zu sein wie die Menschen, die es betrifft. Da ist es vielleicht leichter, sich auf ein Virus als den gemeinsamen Faktor zu einigen. Um überhaupt über Ängste sprechen zu können. Naja. Man soll mir nicht Bagatellisierung vorwerfen können. Darum geht es mir hier nicht.
Neben den realen Gefahren, die ich anerkenne, schafft Corona auch eine neue Öffentlichkeit des Kranksein. Etwas, was bis vor kurzem als zutiefst privat gegolten hat, ist plötzlich Allgemeingut geworden. Und zwar nicht in einem rein statistischen Sinne, sondern ganz erlebbar. Die Individualität von Krankheit wurde zu einer Art kollektivem Interessengebiet. Potentielle Ansteckungslinien zeichnen dabei ein Netzwerk aus miteinander verknüpften Menschen. Knotenpunkte eines untrennbaren Systems, das seine Angst verhandelt. Ob das jeder auf die Art und Weise betrachten will wie ich, keine Ahnung. Und ob das anhält, kann ich jetzt auch noch nicht sagen. Aber ich fände es glaube ich schön, auch in Zukunft mit denjenigen Themen, die uns alle gleichermaßen betreffen, mehr miteinander in Kontakt zu kommen. Mehr krank sein zu dürfen, ohne damit alleine zu bleiben. Zum Beispiel.
Nachtrag. Coronatest positiv. 14 Tage Quarantäne mit der Kleinfamilie. Ich hoffe, wir überleben das.