Hören mit dem dritten Ohr

Assoziative Reflexionen zur inneren und äußeren Welt

Es ist schwer, ehrlich über die eigenen Kinder zu sprechen. Denn über die eigenen Kinder zu sprechen könnte immer dazu führen, auch etwas über sich selbst auszusagen. Und das wird ja gemeinhin lieber vermieden. Dabei ist es natürlich nicht so, als könnte man nicht Stunden und Tage damit zubringen, sich gegenseitig Anekdoten aus dem Leben …

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Lieber L. M., Danke für deinen ellenlangen Kommentar zu meinem Text „Über Verantwortlichkeit“. Auch wenn ich deinen Hinweis darauf, dass dein Schreiben natürlich nichts Eigenkreatives deinerseits, sondern eine reaktive Auseinandersetzung mit meinem Kommentar auf deinen Kommentar zu einem wiederum vormaligen Beitrag meinerseits darstellt, verstanden habe…Sollte es deine innere Struktur nicht zu sehr unangenehm durcheinander bringen, …

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Über Verantwortlichkeit

7. Mai 2020


Lieber L.M.,

Du hast heute meinen letzten Beitrag kommentiert. Und obwohl ich darauf bereits geantwortet habe, sind mir noch zu viele Dinge offen, die mich umtreiben. Die ich unbedingt aussprechen muss. Die mich wirklich aufwühlen. Dabei habe ich keine Ahnung, ob ich Dich richtig verstanden habe. Welche Botschaft da bei mir angekommen ist. Und auf was ich reagiere. Aber ich will es verstehen. Meine Gefühle verstehen. Denn ich bin wirklich aufgebracht. Allerdings gibt es dafür heute viele Gründe. Ich habe am Morgen erfahren, dass ein Schüler an der Schule meines Sohnes sich vergangene Woche das Leben genommen hat. Es steht eine Gedenktafel in der Grundschule neben dem Musikzimmer. Die Musiklehrerin hat uns informiert. Sie hätte das nicht müssen. Sie wollte, dass wir das erfahren. Bevor mein 9jähriger das nächste Mal die Schule betritt. Das hat mich volle Breitseite erwischt. Ja. Menschen nehmen sich das Leben. Ja. Auch Schüler. Ja. Es gibt Verzweiflung durch alle Altersklassen. Durch alle Schichten. Aus vielen Gründen. Und ja. Vielleicht hätte sich dieser Schüler auch ohne Corona das Leben genommen. Vermutlich. Möglicherweise zu einem anderen Zeitpunkt. Weil er ganz ohne virale Bedrohung nicht die Zuversicht in sich finden konnte, dass dieses Leben etwas für ihn bereit hält. Aber es ist Corona. Und wir können das nicht außen vor lassen. Ich habe schon lange Angst vor der Verzweiflung, die sich in der Breite Bahn brechen könnte. Die Verzweiflung, die schon vor Corona da war. Die jetzt aber nach oben gespült wird, weil eine Massenbewegung in Gang ist. Und die Erschütterung des kollektiven Unbewussten nicht spurlos an uns vorübergeht. An keinem. Man kann hingucken. Oder es lassen. Ich bevorzuge ersteres.

Ich habe heute morgen sehr spontan, einem wirklich intuitiven Bauchgefühl folgend, als ich an die junge Frau gedacht habe, die mit einer lebensfrohen, einfühlsamen Begeisterung unsere Kinder hütet, dass es eine wiederkehrende Freude ist, sie gefunden zu haben, eine kurze Notiz in diesem Blog geschrieben. Über ihre Oma, die verstorben ist. Was sie wirklich sehr traurig macht. (Was ich nicht als Selbstverständlichkeit betrachte. Blutsverwandtschaft verpflichtet nicht zu Traurigkeit. Aber sie ist wirklich traurig.) Und sie zweifelt in ihrer Seele, ob sie nicht auch ein wenig Schuld am Tod ihrer geliebten Großmutter trägt. Es war ein sehr feines Gefühl von Schuld, das ich wahrgenommen habe. Keine Schuld in dem Sinne, etwas falsch gemacht zu haben, was ohne Weiteres richtig zu machen gewesen wäre. Keine Selbstvorwürfe. Keine Beschuldigung anderer für Regeln, die man selbst befolgt hat. Nichts von alledem. Es war vielmehr ein leises Zweifeln über das zurückliegende Handeln. Und ob es Alternativen gegeben hätte. Ob es nicht doch möglich gewesen wäre, die Oma zu besuchen. Wo man doch wusste, wie sehr sie unter dem Alleinsein litt. Wie wenig sie es verstehen konnte. Welche Phantasien sich daran möglicherweise knüpften. Alleinsein kann Gespenster hervorrufen, die einen das fürchten lernen. Oder sterben lassen wollen. Gut. Sie war 82. Vielleicht wäre sie eh bald gestorben. Aber es ist Corona und wir kommen an dieser Tatsache nicht vorbei.

Lieber L.M., Du hast also kommentiert. Und ich möchte wirklich verstehen, was DU meinst. Und ich versuche dafür, zur Verfügung zu stellen, was ICH beim wiederkehrenden Lesen deines Kommentars empfinde und mit einer gewissen Distanz denke. Vermutlich ist es nur die Hälfte dessen, was man dazu denken könnte. So ist es ja immer.

Es sei ein großes Fass, was ich da aufmache. Ja. Zugestimmt. Auf ganzer Ebene. Außer einem Einwand. Das große Fass war schon auf. Seit die globale Pandemie um sich greift und alle Nationen unterschiedlichster Couleur darauf mehr oder weniger umfassend reagieren und seit die Bilder der zusammenbrechenden Gesundheitssysteme aus den Nachbarländern uns erreicht haben. Seitdem sind wir alle in Alarmbereitschaft. Die ganze große Gruppe Menschheit. Die Angst hat zugeschlagen. Und es scheint mir eine ziemlich tiefgehende Angst zu sein. Angst macht ja nun bekanntermaßen dumm. Und zwar alle. Auch diejenigen, die ansonsten mit ausreichend Denkvermögen gesegnet sind. Und Angst ist unberechenbar. Wir wollen sie nämlich alle so schnell wie möglich wieder loswerden. Am besten noch bevor wir sie spüren müssen. Denn vielleicht könnten wir das Zittern, das panische Beben, das ganze aufgerührte Vegetativum nicht ertragen. Schocksterben – gibt es das? Vermutlich könnten wir es nicht aushalten. Nein. Also schnell weg damit. Egal mit welchen Methoden. Egal wie. Nur weg damit. Irgendwelche Sicherheiten müssen her. Um Wahrheit geht es jetzt nicht. Später wieder. Jetzt geht es um Sicherheit. Ich weiß, von was ich spreche. Und ich hatte bisher noch keine Angst vor dem Virus. Aber ich hatte Angst. Angst, wie meine Patienten das verkraften würden. Angst, dass mein Arbeitsplatz verloren gehen könnte. Dass ich mein Team, die Menschen, die mir Rückhalt geben, verlieren könnte. Angst, dass meine Familie daran zerbricht. Angst, dass mein Sohn depressiv wird und ich nur zuschauen kann, weil ich ihm keine sozialen Kontakte zur Verfügung stellen kann. Angst davor, dass alle paranoid werden. Auch die besten Freunde nicht mehr erreichbar sind. Angst, dass Traumata unkontrolliert hervorbrechen könnten. Wir uns darüber die Köpfe einschlagen. Bevor es kein Klopapier mehr gibt. Angst, dass das alles nie vorbei geht. Nach Corona eine schlimmere Epidemie kommen könnte. Die auch Kinder betrifft. Meine Kinder betreffen könnte. Nicht nur die Alten. Und dann? Angst vor Einsamkeit hatte ich eigentlich nicht. Mir ist aufgefallen, wie einsam ich bereits die letzten Jahre oft war. Ja, ich hatte in den letzten Wochen viele Ängste. Und ich habe viele Menschen mit Ängsten gesehen. Unterschiedlichster Art. Und das waren bei weitem nicht nur meine Patienten, falls das jemanden trösten würde.

Ich traue in diesen Tagen niemandem, der behauptet, er habe zu keinem Zeitpunkt Angst gehabt in den letzten Wochen, der behauptet, das sei alles eine große Hysterie, politische Machtspiele, ein Ausdruck unserer bisher verleugneten Angst vor der Klimakatastrophe, ein Witz, eine Verschwörung…oder sonst irgendetwas rational zu Wissendes. All diejenigen, die derzeit so tun, als gebe es auch nur annähernd etwas Sicheres zu wissen in dieser unübersichtlichen Sache, verstehen meiner Ansicht nach recht wenig. Und während ich das sage, muss ich schmunzeln, denn ich behaupte natürlich auch mit felsenfester Überzeugung, dass wir alle Angst haben und dass das Problem sei. Meine kleine psychologische Perspektive. Genau. Wir können schlichtweg nicht anders, als mit unseren gewohnten Sichtweisen und Sicherheiten zu plädieren, um sicheren Boden unter die Füße zu bekommen. Das ist ja auch immer so. Und als Einzelindividuen haben wir ja immer einen im Grunde so unbedeutenden Blick auf das große Ganze, dass es ein Wunder ist, dass sich überhaupt so viele Menschen trauen, irgendetwas zu äußern. Und deswegen, weil es eigentlich klüger wäre, die Klappe zu halten, ist es gerade so wichtig, dass man überzeugt von sich und seinen Überzeugungen ist, bereit, den eigenen Blick für unverzichtbar zu halten. Denn während das einerseits eine narzisstische Verkennung darstellt, ist es ja andererseits essentiell, sich kundzutun. Um in Verbindung treten zu können mit anderen, abweichenden Sichtweisen. Um sich bestenfalls gemeinsam dem großen Ganzen nähern zu können. Aber eben das ist verdammt schwere Politik. Und beim Wort Politik komme ich auf deinen Kommentar zurück. Denn deine Forderung, der „wenig greifbaren und für die meisten Menschen abstrakten, rationalen Komponente gleichberechtigt Raum“ zu geben, hat mich plötzlich verstehen lassen, warum Menschen die AfD wählen. Und bitte verstehe mich nicht falsch. Ich halte nicht DICH für überheblich. Aber in dieser Ausdrucksweise schwingt eine Art Sich-Über-Etwas-Stellen mit, die mich wirklich kränkt. Nicht persönlich, da bin ich zu selbstsicher. Aber es ist dieser leichte Hauch von intellektueller Überheblichkeit, auf den ich aufgrund meiner proletarischen Herkunft sehr empfindlich reagiere. Dieses „Ich habe den Punkt verstanden, während die anderen noch in ihrer Emotionalität gefangen sind.“ Oder habe ich Unrecht? Und springt eben doch nur meine ganz eigene, persönliche Empfindlichkeit an, von der ich so schlecht absehen kann. Ich halte das durchaus für eine realistische Vorstellung. Deshalb wäre ich froh, du würdest dich dazu äußern. Möglicherweise bin ich an diesem Punkt deines Kommentars schon ausgestiegen. War mein Blutdruck schon zu hoch, um wirklich klug weiterzudenken. Nun sind einige Stunden vergangen, der Blutdruck ist bei der Beschäftigung damit immer noch hoch, aber ich versuche mich zu mäßigen. Und von Zeile zu Zeile werde ich ruhiger. Noch einmal. Ich will deine Position wirklich verstehen. Was meinst du mit dieser „wenig greifbaren rationalen Komponente“, die für die „meisten Menschen zu abstrakt“ wäre? Sprichst du von der Wahrscheinlichkeit, eher an Corona als an Einsamkeit zu sterben, wenn man 82 Jahre alt ist? Moment. Das klingt zynisch. Woher kommt das? Ich ärgere mich über eine Annahme, die ich hinter deiner Formulierung heraushöre. Vielleicht eine Unterstellung. Daher versuche ich zu erläutern. Ich höre, dass du von einer rationalen Komponente ausgehst. Die zwar insgesamt wenig greifbar ist, für dich aber eventuell schon. Und dass die meisten Menschen so abstrakt nicht denken. Was meinst du? Dass es Ansteckungsrisiken gibt? Dass Abstandsregeln und Mundschutz gut sind, um diese zu minimieren? Dass es gut ist, eine Krankheit, die sich epidemisch ausbreitet und „schlechte“ Gesundheitssysteme zum Kollaps bringt, zu verlangsamen und irgendwie unter Kontrolle zu bringen? Da wären wir völlig einer Meinung. Ich bin keine Abseitige oder Kamikaze-Denkerin. Ich frage nur. Warum sollte das zu abstrakt für die meisten Menschen sein? Das ist doch relativ leicht zu verstehen. Haben ja auch sehr viele verstanden. Schließlich war die Zustimmung in unserem Land für einen Shutdown enorm hoch. Viele hätten sich sogar noch härtere Maßnahmen gewünscht. Die Sehnsucht nach einem starken Führer war auch unverkennbar. Die deutsche Seele ist träge.

Du schreibst, dass die Frage der Verhältnismäßigkeit – so hatte ich meinen Beitrag genannt – eine wichtige sei. Um sich einer Antwort anzunähern, bräuchte man aber die Kenntnis der Wahrscheinlichkeit. Welche Wahrscheinlichkeiten? Ich unterstelle dir hier wieder etwas. Um Gottes Willen. Ich bin furchtbar. Also. Zweierlei. Erstens unterstelle ich, dass du – möglicherweise aus deiner persönlichen/beruflichen/fachlichen Perspektive die medizinischen/physiologischen Wahrscheinlichkeiten meinst. Die medizinische Gefahr durch das Virus. Die Gefahr für unseren Leib. Das körperliche Leben. Die Unversehrtheit unserer Organe. Da kann ich nicht mitreden. Ich weiß zu wenig. Auch wenn man in diesen Tagen ja schnell und viel lernen kann. Allerdings Widersprüchliches. Denn auch die Wissenschaftler sind sich ja keineswegs einig. Oder in nur sehr wenigen Punkten. Und nachhaltig ist das Wissen auch nicht unbedingt. Dafür ändert es sich zu schnell. Ich sehe vor allem Todeszahlen. Die sind hoch. Aber nicht allzu hoch. Sie ereignen sich schnell. Das ist beunruhigend. Sie greifen um sich. Gehen um die ganze Welt. Diese Geschwindigkeit ist beunruhigend. Und diese Unkontrollierbarkeit. Diese Unsichtbarkeit der Gefahr. Die wir durch Testungen offensichtlich machen wollen. Ich kann die Wahrscheinlichkeit der Gefahr schlichtweg nicht einschätzen. Vor allem welche Wahrscheinlichkeit für wen? Das Individuum? Welches? Die Oma? Meinen Partner? Mich? Was davon muss ich einschätzen? Was würde mich am meisten ängstigen? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit für die Gruppe zu erkranken? Und dann. Was, wenn die Gruppe nicht mehr funktioniert? Auseinanderfällt. Alle davonrennen in alle Himmelsrichtungen. Vereinzelt. Splittergruppen. Ich assoziiere. Was meinst du mit Wahrscheinlichkeiten, die man braucht, um eine rationale Entscheidung zu treffen? Was ist die Art von Wahrscheinlichkeit, mit der du derzeit hantierst? Worin macht dich das wie sicherer? Ich sehe Menschen in Aufruhr. Menschen in finanziellen Nöten. Mit Existenzangst. Menschen, die ihren Unmut nicht mehr kontrolliert bekommen und zuschlagen. Noch häufiger als bisher schon. Ich sehe Kinder ohne Sozialkontakte. Du kennst die Forschungsergebnisse zur Bedeutung sozialer Kontakte zum Schutz vor Erkrankungen wahrscheinlich besser als ich. Ich weiß nur, dass meine Evidenz das sicher weiß. Ich sehe Verzweiflung. Nicht die oberflächliche. Die in der Tiefe. Die auch schon da war. Und jetzt hochkommt, wo die Gruppe nicht mehr hält. Ich sehe Politiker, die sich aufblähen wie eh und je. Starke Reden schwingen. Sicherheiten versprechen. Ach ja. Welche Sicherheiten? So leicht bin ich nicht zu trösten. Ich sehe schon zu lange eine Politik, der ich nicht zutraue, dass sie sich wirklich kritisch reflektiert. Fehler zugibt. Nachbessert. Sich der eigenen Scham stellen könnte darüber, dass man zweifelhafte Dinge getan hat, nur um scheinbare Sicherheiten zu schaffen. Die sich aber als falsch herausgestellt haben. Ich habe große Sorge, dass nach dieser ganzen Sache die Rechtspopulisten auch in Deutschland wieder richtig angesagt sein werden. Denn es gibt genug Futter für sie, auf dass sie sich gierig stürzen können, wenn die Angst nur ein wenig abnimmt. Und sie haben verdammt noch mal recht. Wenn Menschen sich öffentlich präsentieren und mit ihren dicken satten Bäuchen verkünden, sie verstünden die Ängste der Menschen und nun müsse man halt zusammenhalten und das, was man gesagt hat, sei nicht falsch gewesen, sondern eben nur nicht ganz richtig, aber daran sei ja jemand anders schuld und wenn der nur…, dann hätte man es ja auch besser gemacht. Nein. So nicht. Ich bin völlig abgewichen. Entschuldige. Welche Wahrscheinlichkeiten meintest Du, die man zum Thema Verhältnismäßigkeit berücksichtigen müsste?

Zweitens (es gab mal einen Beginn meines roten Fadens, finde ihn, wer wolle) unterstelle ich dir, dass du mir einerseits tröstend zustimmst („Ja, du hast ja recht, Verhältnismäßigkeit ist wichtig.“), im gleichen Atemzug aber deine Sichtweise als diejenige in den Raum stellst, welche handlungsleitend für eine angemessene Schlussfolgerung wäre. Du beziehst dich ja auf die wenig greifbare rationale Komponente, welche miteinbezogen werden sollte. Womit du ja, es geht weiter mit Unterstellungen, mir attestierst, ich hätte das nicht getan, als ich den emotionalen Text zum Tod der Großmutter, der Trauer der Enkelin sowie die Schuldthematik ins Spiel gebracht habe. Ich weiß nicht mehr, ob ich dir das wirklich vorwerfen will. Irgendwie reicht es. Ich bin erschöpft.

Über eine Antwort würde ich mich riesig freuen. Und bitte: ich will über Verantwortlichkeit sprechen. Ich will, dass wir an der Basis der Politik, wir, die fähig sind zu denken, wir, die unterschiedliche Standpunkte in dieser Geschichte vertreten, miteinander sprechen. In gegenseitigem Respekt den Konflikt wagen. Damit die Gruppe nicht auseinanderrennt. Und jeder allein bleibt als Ergebnis des Social Distancing. Thema verfehlt.

PS: Wie beurteilst du eigentlich den schwedischen Weg der Eigenverantwortung? Haben die vielleicht weniger Angst, weil sie mehr auf ihre individuelle Urteilsfähigkeit bauen als auf einen starken Staat? Es gibt viele Fragen, die man sich derzeit stellen kann.

Rotas rutinas – Gibt es Beziehung jenseits von Projektionen?

26. April 2020


Lieber F., wie schön, mal wieder persönlich gesprochen zu haben. Mit Worten und mit Klang. Auch wenn die Umarmung noch bis August warten muss 🙂 Habe gerade prompt deinen Text erneut gelesen. Eine wohltuende Vorstellung, mit dir auf der Wiese zu liegen und gemeinsam zu phantasieren. Ich habe früher schon gerne Wolkenbilder gemalt. Auf der Wiese hinter dem Haus. Ausgetretene Pfade verlassen, neue Wege beschritten, ganz im Geheimen, ganz für mich. Tja, wenn das nur heute noch so einfach wäre, wo ich kein Kind mehr bin.

Warum sind wir wohl AnalytikerIn geworden? Hast du eine Theorie für dich, die aufgeht? Waren wir vielleicht schon immer besonders wirkungsvolle Gefäße für die Projektionen anderer und es somit gewohnt, so oder so und so oder so gesehen zu werden. Mannigfalte Gestalten anzunehmen. Keine eigene Gestalt entwickeln zu müssen. Oder können. Haben wir das immer schon nur im Geheimen geübt? Auf der Wiese hinterm Haus? Haben wir möglicherweise durch unsere Berufswahl lediglich aus der Not eine Tugend gemacht, die heute unser Leben bestreitet? Sind wir noch auf der Suche nach der eigenen Gestalt? Oder haben wir aufgegeben und den Auftrag an unsere Patienten abgegeben. Die dann auf die Bühne bringen sollen, was uns nicht gelungen ist.

Ich möchte dich nicht entmutigen, bevor du selbst das Abenteuer Elternschaft kennenlernen konntest. Und ich frage dennoch. Gibt es wirklich Menschen, die fähig wären, in ihrem Kind etwas ganz Eigenes zu sehen und nicht nur das Bild der eigenen Träume, der unerfüllten Sehnsüchte, abgewehrten Ängste, erhofften Wünsche? Ich habe das bisher kaum geschafft. Vielleicht nähere ich mich im Schneckentempo an. Aber ist das überhaupt Sinn der Sache? Die Projektionen zurückziehen, meine ich. Welche Verbindung bleibt dann? Ist das nicht die gleiche Frage nach dem Unterschied zwischen Verliebtheit und Liebe? Wie ist das mit dem Verlieben? Und einer beginnenden therapeutischen Beziehung? Und der Geburt eines Babys? Neuen Freundschaften. All diesen Verheißungen auf etwas Neues. Die Erlösung von…

Ich bin in den letzten Jahren immer mehr mit diesen Fragen beschäftigt. Können Beziehungen wirklich mehr sein als gegenseitige Besetzungen für die immer gleichen Rollen. Schicksalhafte Synchronizitäten, in welchen wir aneinander und miteinander unsere Geschichten wiederholen, modifizieren, bestenfalls ein wenig erweitern. Uns auf jeden Fall benutzen. Brauchen und missbrauchen zu je ganz individuellen Teilen. Sind wir bei all dem wirklich fähig, den Anderen als verschieden beziehungsweise unterschiedlich zu erkennen und wenn ja, nach wie vielen Jahren und in welcher Beziehungsform?

Lieben – das scheint mir mehr und mehr etwas für Außerirdische zu sein. Aber vielleicht gelingt es mir auf der Wiese der Phantasie ja, eine Außerirdische in mir zu entdecken. Wo ist mein Denkfehler? Können wir die Wiederholung wirklich überwinden? Und wenn nicht, wie kann etwas Neues entstehen? Ich würde so gerne glauben, dass der Andere getrennt von mir existiert und dennoch eine Verbindung finden. Es würde meine Ängste lindern. Die Angst vor der Entscheidung, mich entweder im Anderen aufzulösen oder aber getrennt zu sein. Abgeschnitten. Einsam. Ohne Hoffnung.

Ich habe bisher immer nur den Spiegel im Spiegel gesehen.

Ich glaube, das war möglicherweise das Anstrengende heute an Arvo Pärt für mich. Er ist einfach kein Bach. Er beruhigt nicht durch Klänge, in die man sich vertrauensvoll versenken kann. Er hält einem den Spiegel vor. Und jedes Mal kann man etwas Anderes von sich entdecken. Hat etwas von Identitätsdiffusion. Die Kontinuität besteht quasi in der Wiederkehr der Veränderung und der Wiederholung des Immergleichen zugleich. Heute sind wir an ihm gescheitert. In beiderseitigem Einverständnis.

Ach gäbe es nur mehr Sicherheiten. Ach könnte ich mich nur besser langweilen. Gute Nacht.

Das Drehbuch in der Schublade…

24. April 2020


Liebe M., ich musste ein paar Gedanken zu einem vorläufigen Ende führen, bevor ich Dir wieder schreiben konnte.

Dabei habe ich so viele Fragen an Dich. An Mich. An Dich. Die Wächterin. Hüterin. Behüterin. Bewahrerin. Beschützerin. Die verborgenen Geheimnisse. Hinter der dreiviertel Lüge. Was liegt eigentlich noch alles in den Kisten deines Lebens? Am Montag noch fühlte ich mich so gierig. Es war, als hättest du mir einen Tisch gedeckt, der sich bog vor Köstlichkeiten. Der, die, das. Ungeahnte Genüsse. Hannah Arendt und die Holzwege. Die Kunst. Patrizia Cavalli. Die Schönheit. Ästhetik. Die ganze Welt. Du hast meine Verwirrung gespürt. Und mein Verlangen. Der Versuch einer Antwort folgt hier. Ich war die vergangenen Tage nun also damit beschäftigt, um den gedeckten Tisch herumzuschleichen. Die Speisen zu begutachten. Ein bisschen zu schnuppern. Mich darauf zu freuen, von dem ein oder anderen zu kosten. Ohne die Angst, dass irgendwann einmal nichts mehr übrig sein könnte. Und ich hungrig bleibe. Zwischenzeitlich habe ich den Anblick dieses Schlaraffenlandes gar nicht ausgehalten. Es war, als flössen alle Sehnsüchte meines bisherigen Lebens zu diesem Festmahl hin. Das war zu viel. Und ist es noch. Ich habe mich also an die Fastfood-Bude geschlichen. Mit unverdaulichen Nahrungsmitteln kenne ich mich aus. Sie schrecken mich nicht. Auch wenn sie mich nicht satt machen. Nur voll. Und hässlich. So richtig von innen heraus. Fettseele. Die Bewegungsfreiheit immer weiter einschränkt.

Der Genuss des maßvollen Essens ist mir in meinem Leben bisher tatsächlich fremd geblieben. Die Gier meine beste Freundin. Habe gierig geschlungen. Immer in der Hoffnung, den Hunger nur endlich stillen zu können. Dieses maßlose Tier in der Tiefe. Ich habe es mit Sehnsucht gefüttert. Diese aber nicht gekaut. In dicken Brocken runtergeschluckt. Mich allzu oft beinahe verschluckt. Alle Willenskraft hatte nicht ausgereicht, mich zum Genuss zu zwingen.

Ich habe mich oft gefragt, ob meine Suche eigentlich lächerlich ist. Eine Anmaßung in sich. Ein Treffen der Ambivalenzen würde dieselben vielleicht nur aushebeln. Und was bliebe dann. Und nun stehe ich vor diesem Tisch. Sehe Weite und Grenze zugleich. Spüre meine Gier und lass mich von dir gerne zum Einhalten von Maß anhalten. Das hat noch keiner gedurft. Nicht seit ich 3 Jahre alt bin. Stattdessen hat sich die Gier mit sich selbst gequält. Ich bekomme gerade eine Idee davon, was es heißen könnte, ein schmackhaftes Essen zu genießen. Trinken ohne betrunken zu werden. Weil das so dumm ist. Auch wenn es die Angst dämpft. Die Angst vor der Freiheit.

Angst vor dem Wiederholungszwang. Eigentlich macht mir der überhaupt am meisten Angst. Die Vorstellung, dass wir alle nicht an ihm vorbeikommen. Er der Fluss unseres Lebens ist, in dem wir getragen werden. Sozusagen die verinnerlichte Konvention. Aus der man nicht einfach aussteigen kann. An dem sich alle Sehnsüchte abarbeiten. Die geschriebenen Drehbücher bleiben im Zweifel dann doch in der Schublade. Kommen nie zur Aufführung. Selbst wenn die Schauspieler bereit stehen. Die Bühne existiert. Stattdessen werden die anderen bekocht. Die Kinder brauchen doch ihre Mutter. Das hatte man halt irgendwann einmal so entschieden. Und der Mann, was soll der ohne einen mit seinem Leben schon anfangen? Und außerdem: gib dich doch endlich mal zufrieden mit dem, was du hast, was du kannst, was du bist. Du kannst nicht alles haben. Nicht alles sein. Ja. Stimmt. Aber vielleicht ein bisschen mehr. Schritt für Schritt. Maßvoll. Mit Genuss. In die Freiheit.

Ich werde über den Wiederholungszwang systematischer nachdenken müssen. Wenn meine Annahme stimmt, dass er unvermeidlich ist, geht es nicht ums Aussteigen, wie ich bisher dachte, sondern darum, ihn sich anzueignen. Nicht nur geschehen lassen. Hypothesen.

Liebe S, vielen Dank für deine Einladung an diesem Briefwechsel teilnehme zu dürfen. Als kleines Dankeschön würde ich dir gerne ein Text von einem argentinischen Schriftsteller anbieten (Präambel zu der Unterweisung im Uhraufziehen – Julio Cortazar):Denk daran: wenn man dir eine Uhr schenkt, schenkt man dir eine verteufelte kleine Hölle, eine Kette von Rosen, ein …

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Über (Sehn-) Süchte

15. April 2020


Lieber M.,

Ich erinnere mich an eine Denkfigur aus meiner Kindheit. Wenn ich Angst vor etwas hatte, dann malte ich mir das Gefürchtete in den buntesten Farben aus. Gleichzeitig war ich überzeugt, dass die statistische Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des Ereignisses in der Realität dadurch sinken müsse, dass ich es mir im Vorfeld in meiner Phantasie ausgedacht hatte. Denn was für ein Zufall wäre das denn, wenn das Gedachte mit der Wirklichkeit zusammenfallen würde?

Bezüglich meiner Sehnsüchte hatte ich wiederum andere Überzeugungen. Das war später. Ich glaubte fest daran, dass Wünsche, solange ich sie nur zu denken vermag, in Erfüllung gehen würden. Allerdings unter der nicht unerheblichen Bedingung, dass ich auch in der Lage wäre, zur gleichen Zeit von ihnen abzusehen. Also: sollte es mir gelingen, etwas genauso sehr zu wünschen wie mir vorstellen zu können, im Zweifel darauf zu verzichten, würde der Wunsch in Erfüllung gehen. Tat er es nicht, so meine konsequente Auslegung, hatte ich entweder nicht stark genug gewünscht. Oder zu sehr, also war nicht bereit gewesen, auch darauf zu verzichten. Wider besserer Theorie.

Scheiße. Ich mache mir gerade tatsächlich zum ersten Mal wirklich klar, was das heißt. Wie es meiner Kinderseele auf durchaus kreative Art und Weise gelungen ist, Enttäuschungen schon vor ihrem Eintreten zu entkräften. Wie ich so zur Strippenzieherin für all meine Gefühlslagen wurde, scheinbar unberührbar für Verletzungen durch andere. Und im Zuge dessen die Sehnsucht gebeugt wurde. Ich hatte ja nicht genug gewollt. Oder nicht genug Gleichmut bewiesen.

Heute finde ich mein Begehren nicht mehr. Ich suche eifrig. Aber ich finde nur Sehnsüchte. Dabei bin ich immer noch gut im Wünschen, so ist es nicht. Doch ich will scheinbar immer noch nicht genug. Oder zu viel. Es ist, als habe jegliches Wünschen irgendwann in meinem Leben einen Sicherheitsgurt angelegt bekommen, dürfe sich sozusagen nur abgesichert ins Freie wagen. Geht nie ein Risiko ein. Doch was ist ein Wunsch wert, dessen Nichterfüllung nicht schmerzt? Und dessen Ausgang im Wollen selbst schon relativiert wird? Kann es so wirklich gelingen, jemandem anders zu begegnen als immer nur sich selbst? Muss man, wo das Wollen so wenig Raum greifen darf, nicht zwangsläufig in der Sehnsuchtsschleife stecken bleiben? Hinter einem Berg aus Scham verborgen. Unauffindbar für andere und schlimmer noch für einen selbst.

Irgendetwas hat auf jeden Fall die Sucht damit zu tun. Als wäre sie ein Abglanz der verborgenen Wünsche. Seien es die profanen Abhängigkeiten wie die Zigaretten, der Wein, die Schokolade…oder die weniger profanen. All die anderen Dinge, die unbedingt sein MÜSSEN. Man kann ja quasi nach allem süchtig sein. An was dockt denn dieses Gieren nach diesen mehr oder weniger Stofflichkeiten bloß an, so dass man es nicht lassen kann? Wo ersetzen diese das unbedingte Wollen der Vergangenheit, das es doch mal gab? Das mittlerweile so vielen Bedingungen unterworfen ist. Und das sich nicht äußern kann. Im Mentalisierungsprozess auf halber Strecke stecken geblieben. Oder sich nicht traut. Oder oder oder.

Ich verstehe langsam, was die Idee der Psychoanalyse sein könnte, welche ich vertreten möchte. Nicht, ein besserer Mensch zu werden. Einer ohne Konflikte. Ohne Ängste. Ohne Mangelerscheinungen. Ohne Sehnsüchte. Das dachte ich lange Zeit tatsächlich insgeheim. Peinlich. Ist mir aber eh nicht gelungen. Im Moment denke ich, dass es völlig ausreicht, wenn man Menschen findet, die einem helfen, ehrlicher mit sich zu werden.

Lieber F.

13. April 2020


Letztens meintest Du im Vorbeigehen zu mir, dass die Psychoanalyse wohl daran scheitern wird, etwas zu diesen verrückten Zeiten zu sagen.
Ich war etwas verwundert über Deinen Pessimismus. „Wir haben doch etwas zu sagen.“ – „Ja, WIR schon.“ – „Und wer ist die Psychoanalyse dann, wenn nicht wir?“
Es war keine Zeit, unser Gespräch zu vertiefen. Aber den Rest des Tages ist mir das nachgegangen. Und wie Du siehst, bin ich immer noch damit beschäftigt. Für mich hat die Psychoanalyse unendlich viel zu sagen. Gerade jetzt. Aber das hast Du ja nicht bestritten. Nur, dass es ihr auch gelingen würde, es tatsächlich zu tun.
Ich glaube, in einem Punkt hast Du vermutlich tatsächlich Recht, auch wenn ich noch nicht weiß, ob ich diesen Punkt rhetorisch finden kann. Aber DIE Psychoanalyse wird tatsächlich scheitern, sich zu Wort zu melden. Sie wird nicht nur daran scheitern, sich zu den Umständen der aktuell um sich greifenden Pandemie und ihren vielfältigen Folgewirkungen zu äußern, sondern daran, überhaupt etwas zu sagen zu haben. Etwas, was von Relevanz wäre. Politisch. Gesellschaftlich. Ethisch. Menschenbildlich.

Wer ist denn DIEse Psychoanalyse? Die Schweigende. Warum äußert sie sich nicht? Hat sie sich zurückgezogen in die eigenen vier Wände, wo sie im besten Fall noch für einzelne Menschen als therapeutische Methode wirksam werden kann? Wo lese ich von ihr? Wo trägt sie bei zum Verständnis einer gesellschaftlichen Krise? Die weitaus größer ist, als Corona uns vorzugaukeln vermag.

Ich glaube, wenn wir von DER Psychoanalyse sprechen, sprechen wir nicht von Inhalten. Dann sprechen wir von einem Glaubenssystem. Es geht dann nicht um den Versuch, die vielfältigen Weiterentwicklungen und Denkrichtungen seit Freud integrierend denken zu können. Es geht vielmehr um ein verkrustetes Gebilde, das den Hintergrund einfärbt. Von dem es sich so schwer zu lösen scheint.

Erst letztens hatte ich mit einem Analytikerkollegen eine Diskussion über unser Verständnis von Abstinenz. Als ich meine Haltung dazu ausführte – ja, ich war provokativ, irgendetwas hatte mich bereits geärgert, aber ich bewegte mich meiner Ansicht nach sehr in den Grenzen geltender Theorien über Abstinenz als analytisches Ideal, das immer wieder neu errungen werden muss und eben nicht als statische Vorbedingung – wurde er schnell ziemlich attackierend. Hinter der Ausstrahlung tradierter Überlegenheit, wie gesagt das Gebilde im Hintergrund, ging seine Argumentation, die mich inhaltlich durchaus anzuregen in der Lage gewesen wäre, meinem Empfinden nach ziemlich unter die Gürtellinie. Als wäre ich mit meiner Überzeugung nicht als „analytisch“ (genug) einzuschätzen und von daher keiner weiteren Beachtung wert. Ich bin sehr sicher, dass er mich schätzt. Das macht es eher komplizierter als leichter.

Es geht um etwas Unsichtbares, was es so schwer macht, mit psychoanalytischen Ideen in Erscheinung zu treten. Es sind die Implizitheiten, die das Schweigen konstituieren. Welche nicht in den Vielfalt versprechenden Theorien auftauchen. Es geht um die Analytikeridentität. Die so eng mit der Methode verknüpft zu sein scheint. Zu eng. So dass nicht gewagt werden kann, als Analytiker eine öffentliche Position zu beziehen. Weil die Angst, dadurch zu viel zu offenbaren von sich, der eigenen ungelösten Konflikthaftigkeit oder gar zugrundeliegenden strukturellen Problematik, nicht bewältigbar scheint. Es geht um die unhinterfragte Weitergabe von Machtpositionen. Es geht um unbewältigte Geschichte(n). Es geht um unser geistiges Erbe. Doch was haben wir geerbt?

Ich bin nicht so sehr mit den Schwierigkeiten der „Alten“ beschäftigt, sich zu lösen, ihren Platz frei zu geben für die nachfolgende Analytikergeneration, Sitze rechtzeitig zu verkaufen oder Chefarztposten frei zu geben, also das materielle Erbe ganz real zu verteilen. Ich bin mit uns beschäftigt. Damit, wie verdeckte Identitätsunsicherheiten unserer (Analytiker)Eltern zu einer mehr als ambivalenten Identifikation beiträgt und uns daran hindert, Verantwortung zu ergreifen. Etwas wirklich Neues zu wagen. Neue Worte zu finden. Eine neue psychoanalytische Sprache. Eine, die in die Welt getragen werden kann und mitspricht, wenn es um relevante Themen geht. Es geht um die Generationenfrage wie ich finde. Und um unaufgelöste Idealisierungsprozesse. Welche die Ablösung so schwer machen, so riskant. Wie können wir eigene Worte finden, eine psychoanalytische Identität entwickeln, die auch und besonders außerhalb der Community Bestand hat? Sich auch außerhalb der eigenen vier Wände beweisen kann. Ich finde, dass die Psychoanalyse, dass WIR etwas beizutragen haben, auch wenn es um Fragen geht, die über die eigene Zunft hinausgehen. Emanzipation 2.0 sozusagen. So zumindest meine Vision. Aber ich bin ja auch Analytikerin. Zumindest werde ich mich weiterhin für eine halten, so lange nicht zu viele andere etwas anderes behaupten.

Wir beide haben unser flüchtiges Gespräch später dann noch fortgesetzt. In einer größeren Gruppe. Mit psychoanalytisch denkenden Kollegen unterschiedlichster beruflicher Sozialisation. Es ging um unsere jeweiligen Ängste in der wie auch immer existenzbedrohenden oder zumindest so wirkenden Situation der Corona-Pandemie. Die einzelnen Positionen waren wirklich sehr unterschiedlich. Aber es waren wieder viele Elternpaare mit am Tisch. Uneingeladen. Einfach so. Dass sie auch Angst haben oder zumindest unsicher sind, wäre ja nicht das Problem. Nur zu behaupten, keine zu haben, ist problematisch. Es ist nicht beruhigend, Zeugin von Verleugnungen zu werden. So wird die Angst (und alles andere Unverdaute) weitergereicht. In der Identifikation mit denen, die Angst zu nehmen versprechen (als ob das möglich wäre), sich ihre eigenen jedoch nicht eingestehen, bleiben paranoide Ängste bestehen und perpetuieren in neuer Form. Nur, dass das Fitnessstudio zu ist, ist doof. Kino wäre auch mal wieder schön. Auf jeden Fall mehr Normalität. Anstecken tun wir uns ja eh alle. Ach ja?

Es ist so schwer, miteinander zu sprechen. Es ist ganz und gar nicht klar, wo die Ansteckungsängste hingehen. Mit was wir uns da anzustecken meinen. Ich weiß oft nicht, wo der Zugang liegen könnte. Die Psychoanalyse hat Grenzen, die außerhalb der psychoanalytischen Idee liegen. Meintest Du das?

Wir sollten bei unserem nächsten musikalischem Treffen unbedingt mit Arvo Pärts Spiegel im Spiegel anfangen. Es würde mich wirklich sehr interessieren, wie sich das Stück in diesen Zeiten in uns zu entfalten weiß.