Hören mit dem dritten Ohr

Assoziative Reflexionen zur inneren und äußeren Welt

Liebe S., Erich Fromm, das Bild mit dem Bücherregal im Zimmer meiner großen Schwester, das Licht in ihrem Zimmer, das anders war als das Licht in meinem Zimmer. So habe ich „Die Kunst des Liebens“, „Haben oder Sein“ damals auf Italienisch in die Hand bekommen: jetzt lese ich die Titeln seiner weiteren Veröffentlichung und sofort …

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Übers Zu hören

10. April 2020


Liebe M., danke für diesen schönen Morgen. Erich Fromm hat ein wunderbares Buch geschrieben mit dem Titel „Über die Kunst des Zuhörens“. Mir ist nicht klar, warum er in meiner Ausbildung als Vertreter psychoanalytischer Theorienbildung so überhaupt keine Rolle gespielt hat. Ich finde seine Ideen großartig. Seine Sicht auf Patienten und auf Therapie als Begegnung zweier Menschen, die bei aller Verschiedenartigkeit des Leidens die menschliche Grundbedingung miteinander teilen, hat mich inspiriert und nicht unwesentlich zu meiner Leidenschaft für die Psychoanalyse beigetragen.

Ich habe nachgedacht. Darüber, was mich in Deiner Gegenwart inspiriert. Es ist Deine Art des Zuhörens. Es spiegelt mich. Und lässt mich vorsichtig an mich herantasten. Manchmal gefällt mir nicht, was ich da sehe. Es tönt wie eine Dissonanz, ein Missklang. Gerne würde ich dann schnell die zuletzt gesprochenen Worte zurücknehmen, ein versöhnendes Liedchen trällern. Du tust nun weder so, als hättest Du die schrägen Töne nicht gehört, noch machst Du eine liebliche Melodie draus und wägst mich dadurch in Sicherheit. Vielmehr zwingst Du mich geradezu, meine weiteren Worte mit Bedacht zu wählen. Mich selbst genau zu befragen. Welche Klage ich denn nun wirklich vortragen will. Die „hysterische“ Beschwerde, die nach Glättung der Oberflächenstruktur sucht, nach einlullender Beruhigung, Bestätigung. Die ich gut kenne und in virtuosen Variationen singen kann. Oder ob ich etwas Anderes will als das Immerwiederkehrende.

Ich habe heute Nachmittag Carolin Emckes „Wie wir begehren“ begonnen.

Affidamento

9. April 2020


Es ist die Scham, die uns gefangen hält. Die Scham der Beschädigten. Die Scham der Täter, die unvermeidbar und unaufhaltsam zur eigenen wurde. Ununterscheidbar geworden vom eigenen Ich.

Der Bunker. Der Terrorismus. Der Missbrauch an der Jugend und ihren Idealen durch die „Meister“. Da ist eigentlich alles drin. Früh in unserem Kennenlernen hast du deutlich gemacht, dass du aufgehört hast, nach Meistern zu suchen. Ich habe damals einen Wunsch nach Selbstermächtigung gehört (was für ein deutsches Wort, da kommt einem auch gleich Selbstertüchtigung in den Sinn – gibt es das im Italienischen auch?). Das fand ich spannend. Ich war zu dem Zeitpunkt noch sehr mit einem Meister beschäftigt, auch wenn ich zu ahnen begonnen hatte, dass dies nicht mein Weg in die Freiheit sein würde.

Es ist, als müssten wir unsere (All-) Machtphantasien auslagern. Oder einlagern. Je nachdem. Dabei waren sie einst ein Meilenstein unserer menschlichen Entwicklung. Anerkannt zu werden in der Phantasie, dem tiefen Bestreben, alles und alle beherrschen zu wollen, lässt mich an meine knapp 3jährige Tochter denken, die derzeit ihr Tyranninnendasein ausreizt. Dabei geht es ihr ganz offensichtlich nicht um Inhalte (am ehesten vielleicht um Schokolade), sondern um die Erfahrung, die eigene Macht zu spüren, etwas bewirken zu können, einflussreich zu sein. Ich bewundere, welche Mittel und Methoden sie anzuwenden vermag, um meine Vormachtstellung anzugreifen und etwas durchzusetzen, wo ich noch wenige Minuten zuvor geglaubt hatte, eine absolut wankelfeste Position zu haben. Und doch habe ich Grenzen. Und wenn sie diese zu spüren bekommt, ja schon wenn sie sie nur zu ahnen beginnt mit ihrer kindlichen Intuition, nimmt das seelische Unheil seinen Lauf. Wenn dann alle Versuche gescheitert sind, mich von ihrem Wollen zu überzeugen, auch ein herzzereißendes Weinen oder tiefverwundetes Brüllen nicht zielführend waren, nimmt sie meistens Zuflucht zur Nähe. Es ist ein besonderes Geschenk, das sie mir dann macht. Sie unterwirft sich nicht meiner mütterlichen Gewalt, so kommt es mir zumindest nicht vor. Sie erkennt vielmehr meine Grenzen an. Unsere Grenzen zueinander. Es ist die Mischung aus der Erkenntnis, dass wir zwei sind. Verschieden. Getrennt. Und aber auch der Botschaft, dass wir es immer wieder miteinander versuchen werden. Trotzdem. Und gerade deswegen. Ich liebe sie in diesen Momenten sehr.

Die Scham hat aufgegeben, sich in ihren Grenzen zu erkunden. Wenn sie zu groß ist, führt sie unweigerlich in einen Bunker hinein. Alles, was wirklich Sagenswert wäre, wird darin im wahrsten Sinne gebunkert für spätere Zeiten. Der Bunker wird zur Aula für spätere Aufführungen. Die Allmachtsvorstellungen, welche an der Basis unserer Selbstwertentwicklung standen und deren Anerkennung es so dringend gebraucht hätte für die schrittweise Herausbildung einer gesunden narzisstischen Position, welche die Grenzen des anderen zu wahren weiß aber auch zu überschreiten wagt, gären nun im Stillen vor sich hin.

Und warten dort auf einen Meister, der sie zu entzünden vermag. Weil die Idee daran geknüpft worden ist, es käme einer Befreiung des beschämten Ichs gleich.

Kennst du eigentlich die italienische Philosophin Luisa Muraro und ihre Idee des „Affidamento“?

Liebe S., Du schreibst mir am 7. April. 2020: der 7 April ist ein besonderes Datum in meiner Erinnerung. Es hat mit dem Terrorismus in Italien der 70er Jahre zu tun, mit der Rolle der Wörter, der Ideologien, der Gewalt, mit der Faszination der Meister für idealistischen jungen Leute. 7. April war der Name eines …

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07. April 2020

7. April 2020


Liebe M.

Das mit der Angst um mich in der Identifikation mit mir habe ich nicht verstanden. Denkst du dabei ans Scheitern? Daran, dass der Versuch, sich zu äußern einer weiteren Lüge gleichkommen könnte? So dass es besser wäre, geschwiegen zu haben anstatt sich zu „ver“ äußern und damit nur weiteres Missverstehen zu erzeugen? Nicht die Worte gefunden zu haben, welche die Welt verändern könnten. Nicht einmal und gerade nicht die subjektive? Dass das Schreiben ein hilfloser Versuch bleiben könnte, sich aus dem eigenen Elend zu befreien? Und dies dann nur zu einer noch tieferen Depression führen würde?

So verstehe ich den Gedanken der halben Wahrheit und der dreiviertel Lüge. Ich denke dabei an das analytische Konzept des „falschen Selbst“ von D. W. Winnicott. An die Idee, dass wir oft nur meinen, spontan zu sein, wenn wir eigentlich einem inneren Konzept von Spontaneität folgen. Quasi haarscharf vorbei. Und uns dadurch aber nicht identitätsstiftend, sondern eher dissoziierend fühlen. Als verlören wir uns permanent selbst beim hoffnungsvollen Versuch, uns doch eigentlich zu finden.

Wer darf die Wahrheit über einen kennen? Erübrigt sich die Frage nicht in dem Moment, wo wir unserer eigenen Wahrheit näher kommen?

Liebe Grüße vom Schreibtisch, wo ich nun meine Stellungnahme beginnen werde. S.