9. April 2020
Es ist die Scham, die uns gefangen hält. Die Scham der Beschädigten. Die Scham der Täter, die unvermeidbar und unaufhaltsam zur eigenen wurde. Ununterscheidbar geworden vom eigenen Ich.
Der Bunker. Der Terrorismus. Der Missbrauch an der Jugend und ihren Idealen durch die „Meister“. Da ist eigentlich alles drin. Früh in unserem Kennenlernen hast du deutlich gemacht, dass du aufgehört hast, nach Meistern zu suchen. Ich habe damals einen Wunsch nach Selbstermächtigung gehört (was für ein deutsches Wort, da kommt einem auch gleich Selbstertüchtigung in den Sinn – gibt es das im Italienischen auch?). Das fand ich spannend. Ich war zu dem Zeitpunkt noch sehr mit einem Meister beschäftigt, auch wenn ich zu ahnen begonnen hatte, dass dies nicht mein Weg in die Freiheit sein würde.
Es ist, als müssten wir unsere (All-) Machtphantasien auslagern. Oder einlagern. Je nachdem. Dabei waren sie einst ein Meilenstein unserer menschlichen Entwicklung. Anerkannt zu werden in der Phantasie, dem tiefen Bestreben, alles und alle beherrschen zu wollen, lässt mich an meine knapp 3jährige Tochter denken, die derzeit ihr Tyranninnendasein ausreizt. Dabei geht es ihr ganz offensichtlich nicht um Inhalte (am ehesten vielleicht um Schokolade), sondern um die Erfahrung, die eigene Macht zu spüren, etwas bewirken zu können, einflussreich zu sein. Ich bewundere, welche Mittel und Methoden sie anzuwenden vermag, um meine Vormachtstellung anzugreifen und etwas durchzusetzen, wo ich noch wenige Minuten zuvor geglaubt hatte, eine absolut wankelfeste Position zu haben. Und doch habe ich Grenzen. Und wenn sie diese zu spüren bekommt, ja schon wenn sie sie nur zu ahnen beginnt mit ihrer kindlichen Intuition, nimmt das seelische Unheil seinen Lauf. Wenn dann alle Versuche gescheitert sind, mich von ihrem Wollen zu überzeugen, auch ein herzzereißendes Weinen oder tiefverwundetes Brüllen nicht zielführend waren, nimmt sie meistens Zuflucht zur Nähe. Es ist ein besonderes Geschenk, das sie mir dann macht. Sie unterwirft sich nicht meiner mütterlichen Gewalt, so kommt es mir zumindest nicht vor. Sie erkennt vielmehr meine Grenzen an. Unsere Grenzen zueinander. Es ist die Mischung aus der Erkenntnis, dass wir zwei sind. Verschieden. Getrennt. Und aber auch der Botschaft, dass wir es immer wieder miteinander versuchen werden. Trotzdem. Und gerade deswegen. Ich liebe sie in diesen Momenten sehr.
Die Scham hat aufgegeben, sich in ihren Grenzen zu erkunden. Wenn sie zu groß ist, führt sie unweigerlich in einen Bunker hinein. Alles, was wirklich Sagenswert wäre, wird darin im wahrsten Sinne gebunkert für spätere Zeiten. Der Bunker wird zur Aula für spätere Aufführungen. Die Allmachtsvorstellungen, welche an der Basis unserer Selbstwertentwicklung standen und deren Anerkennung es so dringend gebraucht hätte für die schrittweise Herausbildung einer gesunden narzisstischen Position, welche die Grenzen des anderen zu wahren weiß aber auch zu überschreiten wagt, gären nun im Stillen vor sich hin.
Und warten dort auf einen Meister, der sie zu entzünden vermag. Weil die Idee daran geknüpft worden ist, es käme einer Befreiung des beschämten Ichs gleich.
Kennst du eigentlich die italienische Philosophin Luisa Muraro und ihre Idee des „Affidamento“?